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DOKUMENTATIONWarnung vor dem Radikal-Kapitalismus

■ Auszüge aus der päpstlichen Enzyklika „Centesimus Annus“: Sieg der Religion und der Moral

Die von Papst Johannes Paul II. gestern vorgelegte Sozialenzyklika ist in weiten Teilen dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und der marxistischen Ideologie gewidmet. Nachfolgend einige Passagen des 125 Seiten starken Dokuments im Wortlaut

„Der entscheidende Faktor, der den Wandel (in Osteuropa) in Gang gebracht hat, ist zweifellos die Verletzung der Rechte der Arbeit. Man darf nicht vergessen, daß die entscheidende Krise der Systeme, die vorgeben, Ausdruck der Herrschaft und der Diktatur der Arbeiter zu sein, mit den großen Arbeiterbewegungen beginnt, die in Polen im Namen der Solidarität stattfanden.

Die wahre Ursache der jüngsten Ereignisse ist jedoch die vom Atheismus hervorgerufene geistige Leere. Sie hat die jungen Generationen ohne Orientierung gelassen und sie nicht selten veranlaßt, bei ihrer ununterdrückbaren Suche nach der eigenen Identität und nach dem Sinn des Lebens die religiösen Wurzeln der Kultur ihrer Nationen und die Person Christi selbst wiederzuentdecken. (...) Die Ereignisse des Jahres 1989 sind (...) eine Warnung für alle, die im Namen des politischen Realismus Recht und Moral aus der Politik verbannen wollen.

Es ist nur gerecht, daß die ehemals kommunistischen Länder in den derzeitigen Schwierigkeiten von der solidarischen Hilfe der anderen Nationen unterstützt werden. (...) Die Forderung darf jedoch nicht dazu verleiten, die Bemühungen um Unterstützung und Hilfe an die Länder der Dritten Welt zu verringern, die oft unter noch schwereren Situationen der Not und Armut leiden.

Viele Menschen, vielleicht die große Mehrheit, verfügen heute nicht über Mittel, die ihnen tatsächlich und auf menschenwürdige Weise den Eintritt in ein Betriebssystem erlauben, in dem die Arbeit eine wahrhaft zentrale Stellung einnimmt. (...) Sie sind, wenn auch nicht gerade Ausgebeutete, doch weitgehende Randexistenzen; die wirtschaftliche Entwicklung geht über ihre Köpfe hinweg.

Viele andere Menschen leben, auch wenn sie nicht völlige Randexistenzen sind, in einem Milieu, wo der Kampf um das Notwendigste den absoluten Vorrang hat. Dort herrschen noch die Regeln des Kapitalismus der Gründerzeit, mit einer Erbarmungslosigkeit, die jener der finstersten Jahre der ersten Industrialisierungsphase in nichts nachsteht.

Man sieht daraus, wie unhaltbar die Behauptung ist, die Niederlage des sogenannten ,realen Sozialismus‘ lasse den Kapitalismus als einziges Modell wirtschaftlicher Organisation übrig.

Kann man etwa sagen, daß nach dem Scheitern des Kommunismus der Kapitalismus das siegreiche Gesellschaftssystem sei, und daß er das Ziel der Anstrengungen der Länder ist, die ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft neu aufzubauen versuchen? (...) Wird mit Kapitalismus ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv.

Wird aber unter Kapitalismus ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ.

Die marxistische Lösung ist gescheitert, aber in der Welt bestehen nach wie vor Formen der Ausgrenzung und Ausbeutung, insbesondere in der Dritten Welt, so wie Erscheinungen menschlicher Entfremdung, besonders in den Industrieländern, gegen die die Kirche mit Nachruck ihre Stimme erhebt. (...) Es besteht die Gefahr, daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die (...) ihre Lösung in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überläßt.“ dpa

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