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DOKUMENTATIONWalther von der Vogelweide versus Vorspiel

■ Literatur auf dem Prüfstand der Praxis: Hanna-Renate Laurien plädiert in der Tageszeitung 'Die Welt‘ für den keuschen Kuß

Es geht mir nicht aus dem Sinn. Ich bin sicher, auch Sie kennen das: ein Lied, ein Bild, ein Wort, die uns nicht mehr loslassen. »Dieser Monat ist ein Kuß«, besang Logau den Mai, »den der Himmel gibt der Erde, daß sie jetzund seine Braut, künftig eine Mutter werde.« Mich packte der Kuß, der Brautschaft und Mutterschaft der Erde bewirkt. Und dann höre, spüre ich Eichendorff: »Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküßt, daß sie Blütenschimmer von ihm nur träumen müßt...« Im Kuß Begegnung von Himmel und Erde, Begegnung mit dem ganz anderen, die sich dennoch nur in der Gegenseitigkeit erfüllt.

Ich tippe die Fernsehprogramme durch: Da gibt es Küsse, besitzergreifend, Vorspiel ohne Spielqualität, Begleitinstrumentarium eines auf Sexualität reduzierten Aufpralls der Geschlechter. Paul Fleming (1642) wußte, »Wie Er wolle geküsset seyn«: »Nirgends hin/ als auff den Mund/ da sinkckst in deß Hertzen grund. Halb gebissen/ halb gehaucht,/ Halb die Lippen eingetaucht. Nicht ohn Unterscheid der Zeiten, Mehr alleine/ denn bey Leuten...«

»Ihr tausend Blätter im Wald wißt, Ich hab Schön-Rohtrauts Mund geküßt! — Schweig stille, mein Herz.« (Mörike) »Kust er mich? wol tusentstunt, tandaradei, seht wie rot mir ist der munt« (Walther von der Vogelweide). Wir ahnen die Innigkeit der Begegnung, die Leiden schafft, Freude am anderen bewirkt.

Walther von der Vogelweide, in sehr »moderner« Gegnerschaft zu Reinmar, jeder ein Dichterfürst, brandmarkt den, der sich durch Kußraub bei der geliebten Dame zu profilieren suche, schlicht als Dieb. Das ist Vorahnung einer späteren Bekundung, Minne könne sich nur in Gegenseitigkeit erfüllen. Wie nachhaltig muß das Parzival lernen, der den Rat der Mutter, den Ring der Dame zu erwerben, überfallartig verwirklicht, indem er der schönen schlafenden Jeschûte, deren herrlicher Mund wie kein anderer zum Küssen verlockt, Ring und Kuß raubt. Er hat die Lebenslektion vor sich: Minne bedarf der Zucht, der Form, und Preis und Glück werden dem zuteil, der Gott und Welt zu verbinden weiß, die Seele nicht an die Welt verliert und doch der Welt »Huld« bewahrt.

Im Kuß wird die Spannung menschlichen Seins zwischen Wonne und Vergänglichkeit, die Spannung der Liebe zwischen Erfüllung Trennung erfahren: »...in deinen Küssen welche Wonne! In deinem Auge welcher Schmerz!« (Goethe, »Willkommen und Abschied«), »Empfangne Küsse, Ambrirter safft/ Verbleibt nicht lange süsse/ Und kommt von aller krafft/ Verrauschte flüsse/ Erquicken nicht/ was unseren geist erfreut/ Entspringt aus gegenwärtigkeit« (Hofmann von Hofmannswaldau).

Und in Goethes »Marienbader Elegie«, 1824 auf der Reise im Wagen, im Quartier geschrieben, da in seiner Brust »Tod und Leben grausend sich bekämpfen«, war »der Abendkuß, ein treu verbindlich Siegel«, das nicht hielt. »Der Kuß, der letzte, grausam süß, zerschneidend, ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen« kann das Bild der Geliebten nicht löschen, die »selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte. Den letzten mir auf die Lippen drückte: So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben, mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben.« Seelische Aufgewühltheit, nicht Abgeklärtheit des Alters. Nicht Zufälligkeit, keine Vertauschbarkeit. Der Abschied, die Trennung: »Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren. So reich an Gütern, reicher an Gefahr; sie (die Götter) drängten mich zum gabseligen Munde, sie trennen mich — und richten mich zu Grunde.«

Der gabselige Mund. Ein Austausch von Freiheiten. Beziehung zu etwas, was mir nicht gehört, sich mir aber öffnet. Ein Signal des Vertrauens, des Zutrauens, Sprache, Liebe — auch Politik — können nicht sein ohne den beginnenden Akt des Vertrauens. Die Beziehung von Welt und Wort, von Mensch zu Mensch wird im Handeln zu einer Beziehung der Verantwortung, eine Bezeichnung, in der auch »Antwort« steckt. »Wo Freiheiten einander begegnen«, stellt George Steiner fest, wo Schenken oder Verweigern einander entsprechen oder widersprechen können, »ist cortesia, ist das, was ich Herzensakt genannt habe, von Essenz... Doch ohne das Wagnis der Bewillkommnung läßt sich keine Tür öffnen, wenn die Freiheit anklopft.«

Schön-Rohtrauts Mund? »Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus.« »Schöne Jugend« überschrieb Gottfried das Gedicht. Eine Kultur zerbröckelt, im angeknabberten Mund endet die sentimentale Schein-Harmlosigkeit der »schönen Jugend«. Das Nest von jungen Ratten »in einer Laube unter dem Zwerchfell« offenbart die Verlogenheit der Pseudo-Geborgenheit — es ist wie mit dem Judaskuß. Er pervertiert den Kuß, der Zeichen der Besiegelung von Versöhnung, Frieden ist. Voss berichtet, wie sich Goethe und Schiller nach beider Krankheit wiedersahen: »sie fielen sich um den hals und küßten sich in einem langen herzlichen kusse, ehe eines von ihnen ein wort hervorbrachte.« Bei Markus lesen wir: »Den ich küssen werde, (dem ich mich als Freund zeige), der ist es! Den greift und führt ihn sicher ab.« Bei Lukas spricht Jesus: »Judas! Mit einem Kuß lieferst du den Menschensohn aus.«

Wir verwandeln das Zeichen der Treue in das Zeichen des Verrats. Wir können, nachdem die Grenzen des Herkömmlichen zerbrochen sind, das Dasein, die Begegnung der Freiheiten neu beschreiben. Für den Christen ist dieser Neubeginn die Erfahrung der Auferstehung Jesu. Sie verändert unsere Wirklichkeitserfahrung, schafft neue Beziehungen, und so kann aus dem Gegenüber der Bruder, die Schwester, aus dem Judaskuß der Bruderkuß, auch der bis heute in der orthodoxen Kirche vollzogene Osterkuß werden.

Bei Paul Celan wird in einem späteren Gedicht das neue Ineinander, der Übergang von Beten zum Betten gewonnen: »Die Pole/ sind in uns,/ unübersteigbar/ im Wachen,/ wir schlafen hinüber, vors Tor/ des Erbarmens... Ich blättre dich auf, für immer,/ du betest, du bettest/ uns frei.« Und in seinem »Schlaflied«: »Schließe, Geliebte, die Augen, die glänzen. Nichts mehr sei Welt als dein schimmernder Mund.« Hanna-Renate Laurien

Aus 'Die Welt‘ vom 6.5.91.

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