DOKUMENTATION: „ich werde zeit brauchen, mich neu zu orientieren“
■ Erklärung von Günther Sonnenberg, Gefangener aus der RAF, zu einer möglichen Haftverschonung im Mai
Vor einigen Tagen ist Claudia Wannersdorf als erste von acht Gefangenen aus der RAF oder dem RAF-Umkreis freigekommen, deren mögliche Entlassung zu Jahresbeginn im Rahmen einer Initiative von Bundesjustizminister Kinkel bekanntgeworden war. Ihre Haftverschonung erfolgte, ohne daß sie eine „politische Abschwör-Erklärung“ abgeben mußte. Über seinen Anwalt erreichte uns jetzt eine Erklärung von Günter Sonnenberg zu seiner möglichen Haftentlassung. Er hat im Mai 15 Jahre einer lebenslänglichen Haftstrafe, unter anderem wegen des Mordes an zwei Polizisten bei seiner Verhaftung im Mai 1977, abgesessen.
ich will hier klarstellen, womit ich mich beschäftigen muß, sollte ich anfang mai — nach 15 jahren — vom knast rauskommen:
ich muß mich von einem neurologischen facharzt unter lebendigen bedingungen (also im leben außerhalb von knast und isolation) danach untersuchen lassen, wieweit die gefahr von epileptischen anfällen geht.
außerdem muß festgestellt werden, ob das eine (von mehreren noch im kopf befindlichen) geschoßteil, das sich kurz vor dem eingang einer arterie befindet, seit der letzten untersuchung gewandert ist. eine wanderung würde einem lebensgefährlichen zustand gleichkommen.
was für mich aber das allerwichtigste sein wird ist, festzustellen, was ich — aufgrund der schußverletzung und 15 jahren knastbedingungen — verloren, vergessen und verlernt habe.
nach der schußverletzung hatte ich 1977 vom bewußtseinszustand eines kleinkindes aus mit dem erlernen von fähigkeiten und wissen wieder von vorne anfangen müssen.
was ich in den letzten 15 jahren wieder erlernt habe, ist nur bruchstückhaft das, was ich vorher wußte und kannte.
im plädoyer von bundesanwalt lampe im april 1978 wurde der satz formuliert, daß ich in freiheit nur noch zu einfachen arbeiten zu gebrauchen sein werde; er nannte dazu als beispiel einen postboten. meine vorstellungen sind andere als die eines postboten; was ich aber tatsächlich noch machen kann, muß ich erst unter freien bedingungen (also in der freiheit) herausfinden.
wenn ich oben vom „bewußtseinszustand eines kleinkindes“ schreibe, will ich es hier noch etwas erläutern:
außer meinem namen wußte ich nichts mehr. ich konnte weder lesen noch schreiben, noch in irgendeiner form formulieren. wörter und begriffe waren mir fremd. für die fundamentalsten gegenstände des täglichen lebens — wie etwa teller oder löffel, bett oder waschbecken, buch oder radio — kannte ich die worte und begriffe nicht mehr. also mit 22 jahren war ich wieder ganz am anfang. und die voraussetzungen, unter denen ich daran lernte, waren isolation.
15 jahre gefangenschaft unter den sonderhaftbedingungen für politische gefangene bedeutet auch, von den politischen prozessen in der gesellschaft weitgehend ausgeschlossen gewesen zu sein; minimalste kommunikationsmöglichkeiten nach draußen und eingeschränktester spielraum für politische interventionen. das heißt, ich werde zeit brauchen, mich neu in der politischen situation jetzt zu orientieren, beziehungen aufzubauen und zu organisieren.
bundesanwalt kurth hatte am 16. januar 1992 gegenüber meinem verteidiger zur frage, ob ich nach 15 jahren knast freikomme, ausdrücklich gesagt und verlangt, daß ich
—erklären muß, zukünftig politische ziele nicht mehr mit gewalt erreichen zu wollen — und
—in zukunft ein „straffreies leben“ führen werde.
diese erklärung soll von mir die bestätigung des staatlichen gewaltmonopols als etwas ganz normales erreichen. eine solche erklärung oder bestätigung werde ich nicht abgeben. das ist meine verantwortung gegenüber den vielen millionen menschen, die aufgrund des reichtums in den wohlstandsmetropolen sterben. und ich werde nie davon abgehen, daß alle vom kapitalistischen weltmarkt im elend gehaltenen menschen ein recht auf ein leben in würde haben.
bruchsal, 18.februar 1992
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen