DOKUMENTATION: „Wir brauchen jetzt die Zäsur für einen neuen Aufbruch“
■ Die Rote Armee Fraktion bekräftigt die Abkehr vom bewaffneten Kampf/ Neues Ziel ist der Aufbau einer relevanten gesellschaftlichen Gegenmacht
WIR GRÜSSEN ALLE TEILNEHMERINNEN UND TEILNEHMER DER DEMONSTRATION UND DES INTERNATIONALEN KONGRESSES GEGEN DEN WELTWIRTSCHAFTSGIPFEL IN MÜNCHEN
Wir freuen uns, daß Ihr zu dieser Demonstration und dem Kongreß zusammenkommt, trotz der massiven Versuche von Stoibers Bullentruppen und der Medienhetze, Eure Organisierung und Vorbereitung niederzuknüppeln und zu zerschlagen.
Wir leben heute in einer Zeit, in der wir alle mit den katastrophalen Folgen der Globalisierung der Herrschaft des kapitalistischen Markts konfrontiert sind. Deshalb finden wir es wichtig, daß alle, die weltweit auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben durchgesetzt werden kann, die Diskussion international führen und über die Grenzen und Kontinente hinweg organisieren. (...)
Mit diesem Kongreß habt Ihr eine Möglichkeit geschaffen, Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen, zu gemeinsamen Einschätzungen zu kommen und darauf die Erarbeitung gemeinsamer Strategien anfangen zu können.
In der heutigen Situation sehen wir es als unbedingt wichtig an, sowohl was den Kampf hier bei uns betrifft wie auch im internationalen, daß es eine Verständigung über gemeinsame konkrete Ziele und Forderungen geben muß. Wir müssen Vorstellungen herausfinden, mit welchen Schritten wir den Herrschenden die Bestimmung über Mensch und Natur entreißen können und — ob in München, Rio, Los Angeles oder Maputo, ob in Palästina oder Kurdistan — die global-katastrophale Entwicklung umzudrehen.
Ein Aneignungsprozeß von unten wird in konkreten Kämpfen und konkreten Forderungen laufen, in denen wir den Herrschenden abringen, was Menschen zum Leben brauchen. Das wird zum Beispiel vom Kampf um Lebens- und Wohnraum, gegen zerstörerische und sinnentleerte Arbeit, gegen Umweltvernichtung, den Gefangenenkämpfen, der Organisierung von Schutz für Flüchtlinge und antifaschistische Mobilisierung bis zur Forderung nach Schuldenstreichung oder Reparationszahlungen der imperialistischen Staaten an die kolonisierten Völker reichen.
Wir hier in der BRD haben eine große Verantwortung für diesen Prozeß, denn wir haben es mit einem Staat zu tun, dessen Zerstörungspotential enorm ist. Im Inneren haben sie ein reaktionäres Klima geschaffen, das hier zum Beispiel zur rassistischen Mobilisierung — dem alltäglichen Krieg gegen Flüchtlinge — geführt hat. Sie brauchen die reaktionäre Stimmung, das Erstarken des deutschen Herrenmenschenbewußtseins als Ventil für die sich verschärfende, elende Lebenssituation von Millionen von Menschen hier, denn sie wollen freie Hand für ihre Großmachtpolitik: Heute walzt die Deutsche Mark über den Osten, und, wenn wir das nicht verhindern, die Bundeswehr morgen in die ganze Welt. (...)
Wir wollen mit diesem Brief die Möglichkeit nutzen, besonders den GenossInnen, die aus anderen Ländern hierher gekommen sind, unseren Schritt vom April '92— von unserer Seite aus die Eskalation zurückzunehmen — transparent zu machen.
Es ist ein Schritt aus unserer speziellen Situation in der BRD. Wir stellen damit nicht den bewaffneten Befreiungskampf in anderen Ländern in Frage; unsere tiefe Solidarität gehört all denen, die auf der ganzen Welt um Befreiung kämpfen.
Es ist überall die Sache der Kämpfenden, aus ihren speziellen Bedingungen und Prozessen zu entscheiden, welche Mittel und Formen des Kampfes zu welchem Zeitpunkt gebraucht und eingesetzt werden. Für Euch sagen wir kurz was zu unserer Geschichte: (...)
In den verschiedenen Phasen unseres 22jährigen Kampfs haben wir als Metropolenguerilla gegen die imperialistischen Weltbeherrschungspläne interveniert, gegen die US-Politik, gegen die Nato, gegen die Formierung des westeuropäischen Blocks und gegen die Entwicklung Großdeutschlands zur Weltmacht und gegen die „neue Weltordnung“.
Spätestens 89 lag mit der Annexion der DDR durch die BRD auf dem Tisch, daß eine historische Phase, die mit der Oktoberrevolution ihren Anfang nahm, mit großen Schritten auf ihr Ende zuging. Doch wir haben es nicht geschafft, eine Diskussion in Gang zu setzen, die sich damit konfrontriert und gleichzeitig aus der Geschichte der Kämpfe — den Stärken und Schwächen — neue Bestimmungen entwickelt.
Mit unseren Aktionen wollten wir in dieser Situation, in der sich hier in der Gesellschaft die Widersprüche immer mehr verschärft haben und es an verschiedenen Fragen Kämpfe gab, auf die wir uns bezogen haben, zu einem Prozeß von Diskussion um neue Orientierung und Aufbau einer Gegenmacht von unten beitragen.
Wir sind mit unseren Aktionen auf eine Grenze gestoßen. Wir konnten damit nicht die Prozesse, die wir für notwendig halten, in Bewegung setzen (...).
Gerade unsere letzte Aktion, die gegen den Treuhandchef Rohwedder, hat das für uns deutlich gemacht. Wir haben mit dieser Aktion in einer völlig neuen gesellschaftlichen Situation in diesem Land — nach der Annexion der DDR — interveniert. Ihre unmittelbare Bestimmung war es, der kapitalistischen Walze, die gegen die Menschen in der Ex-DDR von hier aus losrollte, auch unsere Kraft entgegenzusetzen und eine Verbindung zu den Kämpfen dort herzustellen. Heute wissen wir, daß dieser Prozeß aus zwei völlig unterschiedlichen Realitäten und Erfahrungen heraus zu einem gemeinsamem Kampf zu kommen, intensive Auseinandersetzungen und Verstehen, voneinander lernen aus diesen unterschiedlichen Geschichten, erfordert, das ist die Voraussetzung für den Aufbau einer gemeinsamen Gegenmacht.
Natürlich gab es viele Menschen, die sich über unsere Aktionen gefreut haben — aber unsere Angriffe haben kaum Diskussionen und Organisationsprozesse ausgelöst, und allein aus sich heraus können sie den Verbrechen der Herrschenden keine wirksamen Grenzen setzen. Aus all dem brauchen wir jetzt die Zäsur für einen neuen Aufbruch.
Wir brauchen eine offene Diskusion über neue Grundlagen und Orientierungen, in der es möglich wird, neue Gedanken und Vorstellungen für den Umwälzungsprozeß zu entwickeln. Zäsur bedeutet auch die Aneignung der Geschichte der Kämpfe, die Anstrengung, die Fehler zu begreifen, um sie nicht zu wiederholen und die positiven Erfahrungen mitzunehmen. Wir wissen, daß es GenossInnen gibt, die unsere Entscheidung vom April widersprüchlich finden, angesichts der zugespitzten Situation insgesamt und des zu diesem Zeitpunkt eskalierenden Krieges gegen das kurdische Volk, den der türkische Staat mit deutschen Waffen und deutschem Geld führt.
Es ist keine Frage, daß wir Widerstand gegen die Machtpolitik Großdeutschlands nach innen und außen für wichtig halten, und der jetzt notwendige Prozeß kann sicher nicht nur ein Diskussionsprozeß sein. Aber für uns steht fest, daß wir diesen Prozeß heute mit bewaffneten Aktionen nicht voranbringen.
Für einen neuen Aufbruch brauchen wir eine gemeinsame, tiefgreifende und grundlegende Diskussion. (...)
Für uns hier stellt sich die Frage, wie eine Gegenmacht von unten entstehen kann, die eine Anziehungskraft für immer mehr Menschen hat (...). Das Neue zu entwickeln, das Soziale unter den Menschen herauszukämpfen, ist eine Frage an alle, die sich nicht der Macht des Geldes unterwerfen wollen. Wir sehen darin die Voraussetzung, daß wir hier den Aufbau einer relevanten gesellschaftlichen Gegenmacht schaffen können. (...)
Wir müssen es schaffen, eine andere gesellschaftliche Entwicklung in Bewegung zu setzen, in der sich Menschen finden, die es wieder als reale Perspektive sehen können, daß das kapitalistische System und seine menschenverachtenden Werte überwunden werden können, als eine Bewegung, die auch heute schon neue Inhalte, Werte und konkrete Veränderungen schafft — denn das sind keine Ziele, die bis auf eine Zeit „nach der Revolution“ verschoben werden können.
Wir haben mit dem Brief vom 10.4. eine ganze lange Phase unserer Geschichte abgeschlossen. Das ist unsere Entscheidung, daß wir jetzt diesen Prozeß von Reflexion und Neubestimmung für die Entwicklung auf unserer Seite wollen — das hat nichts mit dem Staat zu tun. (...)
Wir haben gesagt, daß es für uns ein wesentlicher Bestandteil in dem jetzt notwendigen Aufbau-Prozeß ist, die Freiheit unserer gefangenen GenossInnen zu erkämpfen. (...) Wir wollen eine reale Lebensperspektive für unsere gefangenen GenossInnen und für die Gefangenen aus allen Befreiungskämpfen; wir wollen sie für alle und mit allen, die eine menschliche Lebensbestimmung für sich und alle Unterdrückten und Entrechteten überall auf dieser Welt erkämpfen wollen.
29.6.92
rote armee fraktion
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