DOKUMENTATION: Eine Katastrophe namens UNO
■ Die Bilanz humanitärer UNO-Einsätze am Horn von Afrika ist vernichtend
Ein UNO-Beamter nannte mir gegenüber diese Woche die Katastrophe in Somalia als „das größte Versagen der UNO zu unseren Lebzeiten“. Seine Darstellung stimmt. In den letzten neunzehn Monaten, während das Land mit Hunderttausenden Hungertoten und der Aussicht des Wegsterbens einer ganzen Generation die schlimmste Krise seiner Geschichte durchgemacht hat, ist die UNO tatsächlich nicht präsent gewesen.
Butros Ghali, der Generalsekretär der UNO, hat die Westmächte für ihre Beschäftigung mit Jugoslawien — dem „Krieg der Reichen“ — gescholten. Es stimmt, daß die Kabale von Nationen, die den UN-Sicherheitsrat kontrolliert, dem Schicksal Somalias mit einer traurigen Gleichgültigkeit begegnet ist. Aber genauso fundamental ist eine andere Malaise. Die UNO ist wohl die weltweit am wenigsten rechenschaftspflichtige Bürokratie von Regierungsgröße.
Inkompetenz, Habgier und Faulheit
Hunderttausende, ja Millionen von Leben sind von Hungerhilfe abhängig. Ein Laie könnte meinen, das um die UNO zentrierte internationale System der Hungerhilfe sei hocheffizient, besetzt mit pflichtbewußten Fachkräften außerordentlichen Formats. Nichts ist von der Wahrheit weiter entfernt: Das Ausmaß von Inkompetenz, Gefühllosigkeit, Habgier und Faulheit in den Sonderagenturen der UNO, die mit Hungerhilfe beschäftigt sind, ist fürchterlich. Ihre Operationen sind zum großen Teil langsam, verschwenderisch, schlecht geplant und ausgeführt. Ihre Auswirkungen werden nie bilanziert. Jede Organisation begeht Fehler — mit dem Unterschied, daß die UNO niemals gezwungen wird, aus ihren zu lernen.
Wenn in einem westlichen industrialisierten Land ein Unglück passiert, gibt es eine öffentliche Untersuchungskommission, die Schuldigkeiten verteilt und Lösungen vorschlägt. Die Opfer verfügen im besten Fall über juristische Gegenmittel, schlimmstenfalls über die Waffe öffentlicher Anprangerung. In jedem Fall können sie die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
Für die Dritte Welt gilt dies, mit wenigen — wichtigen — Ausnahmen, nicht. Nach einer Hungersnot kann man bestenfalls auf geheime hausinterne Aufbereitungen zählen, die niemals ans Tageslicht gelangen. Der Öffentlichkeit wird nur gesagt, es habe eine Naturkatastrophe gegeben und die UNO habe ihr Bestes getan, um Hilfe zu leisten. Über die Inkompetenz, Korruption und Pflichtvergessenheit in den Hilfsbürokratien erzählt man uns nichts. Jede Katastrophe wird als neue Erfolgsgeschichte präsentiert.
Die schuldhafte Fahrlässigkeit des UNO-Nahrungsmittelprogramms (WFP) ist eine der Hauptursachen, daß gegen die Hungersnot von 1984 in Äthiopien nicht genügend Hilfe mobilisiert wurde. Anfang 1984 bat die äthiopische Regierung um 450.000 Tonnen Hilfsgüter — die Hälfte ihres geschätzten Bedarfs, aber sie rechnete nicht damit, mehr von den Gebern erhalten zu können. Das WFP entsandte eine Untersuchungsmission, die die Kapazität der äthiopischen Häfen fälschlicherweise auf nur 125.000 Tonnen schätzte. Als Ergebnis erklärte die WFP-Mission, Äthiopien brauche nur 125.000 Tonnen — eine zehnfache Unterschätzung sowohl des reellen Bedarfs wie auch der Hafenkapazitäten. Der Bericht trug zum unnötigen Tod von Hunderttausenden bei, aber die verantwortlichen Beamten wurden nie vor Gericht gestellt; stattdessen führten sie ihren unaufhaltsamen Karriereaufstieg fort.
In den Tiefen der Hungersnot von 1988 im Süd-Sudan zog sich der UNO-Kinderfonds (Unicef) aus zwei Hilfsprogrammen dort zurück — unter Druck der sudanesischen Regierung, die wegen ihrer Führung des Bürgerkrieges der Hauptverantwortliche für die Hungersnot war. Eine öffentliche Beschwerde seitens Unicef gab es nicht. Im nächsten Jahr, als innerer politischer Druck in Sudan und beispiellose Kritik aus den USA zur Einrichtung der „Operation Lifeline“ für die Hungernden führte, stand Unicef in der Welle öffentlicher Selbstbeweihräucherung an vorderster Stelle. Das vorherige Debakel wurde nie erwähnt, die Lehren über den Umgang mit der Regierung nicht gelernt. Folglich häuften sich die Probleme der Operation Lifeline, und schließlich wurde sie ganz eingestellt. Einzig die Person, die 1988 die Hilfsprogramme begonnen und damit die sudanesische Regierung verärgert hatte, wurde diszipliniert — und versetzt.
In Somalia ein Jahr lang nichts
Das sind nur zwei Beispiele. Jede UNO-Agentur — ja, jede größere staatliche Hilfsorganisation und viele Nichtregierungsorganisationen — hat ähnliche, unentschuldbare Geschichten. Eine Agentur wie Unicef wendet sich gegen solche Kritik mit dem Argument, sie leiste doch gute Arbeit, schlechte Nachrichten würden die Öffentlichkeit von Spenden abhalten. Wie einfältig! Leisten denn die großen Hilfsagenturen gute Arbeit?
In Somalia machten die UNO- Agenturen ein Jahr lang überhaupt nichts. Dann zauderten und berieten sie wieder sechs Monate lang und schickten ein paar kleine Schiffe mit Lebensmitteln. Es wurden keine Vorausplanungen für mögliche massive Notoperationen angefertigt, wie sie unter anderen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) seit dem letzten Jahr fordert.
Heute benimmt sich die UNO immer noch so, als ob die Krise noch viele Monate entfernt wäre; sie schickt Mission über Mission zur Beurteilung der Lage, während jeden Tag Hunderte somalischer Kinder sterben. Das IKRK gibt die Hälfte seines gesamten weltweiten Budgets für dieses Land aus, während die UNO auf ihren Händen sitzenbleibt.
Beamte zur Rechenschaft ziehen
Hilfsexperten sind einhellig der Meinung: Die beiden effektivsten Vorbeugungsprogramme gegen Hunger in der Welt gibt es in Indien und Botswana. Diese beiden Systeme haben eines gemeinsam — sie entstanden auf der Grundlage öffentlicher Prüfung vergangener Tätigkeit und Rechenschaft für diese Tätigkeit. In beiden Ländern werden gewählte Vertreter, die ihre Wähler hungern lassen, nicht wiedergewählt, und pflichtvergessene Regierungsbeamte müssen mit Disziplinarmaßnahmen und sogar juristischer Verfolgung rechnen.
Es gibt Anzeichen dafür, daß sich die UNO ändert — wie zum Beispiel die Schaffung des neuen Postens eines Untergeneralsekretärs für Humanitäre Angelegenheiten. Aber dieser Versuch, die Bürokratie umzustrukturieren, ist zum Scheitern verdammt, wenn nicht weitgehende Reformen einer ganz anderen Art eintreten.
Rechenschaftspflicht ist der Schlüssel. Beamte in den UNO- Agenturen, die für das Sterben Hunderttausender verantwortlich sind, sollten mit einer Anklage rechnen müssen, nicht einer Beförderung. Die UNO muß ihre Akten über alle Hungerhilfsoperationen für öffentliche Prüfungen offenlegen und die Katastrophe namens UNO-Hungerhilfe einer unabhängigen und öffentlichen Untersuchung unterziehen. Nötig sind zumindest mehrere Anklagen wegen krimineller Fahrlässigkeit gegen hohe Beamte.
Zweitens muß die UNO diese Glasnost zu einer ständigen Einrichtung machen. Das bedeutet: Die Opfer von Inkompetenz, Fahrlässigkeit oder Gefühllosigkeit seitens der UNO müssen juristische Gegenmittel erhalten. Flüchtlinge sollten in der Lage sein, das UNHCR vor Gericht zu stellen, Hungeropfer sollten WFP und Unicef verklagen dürfen. Wenn das schwierig ist, muß zumindest auf jedes UNO-Hilfsprogramm eine öffentliche Routineuntersuchung folgen.
Butros Ghali hat Neigungen zum Gorbatschow im Kreml der UNO. Aber zu viele Nomenklaturisten in den mittleren Rängen behindern ihn. Er braucht die Unterstützung der Geldgeber der UNO, um diese dringend benötigten Reformen durchzuziehen. Alex de Waal
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen