DIETROLOGIA Von Werner Raith (Rom)

Dem Vernehmen nach soll das Wesen mal klein sein und mal groß, dick und dünn, Frau und Mann, Kind und Greis — in jedem Falle aber hat es eine eindeutige Nationalität: Italiener. Gemeint ist der „Dietrologe“. Das hat nichts mit Diät oder so zu tun, sondern kommt von „dietro“, was „dahinter“ heißt. Ein Dietrologe ist ein Mensch, der hinter die Dinge blickt. Also ein Italiener. Denn die sind geborene Dietrologen. Nichts, was auf der Welt geschieht, passiert ohne Hintergrund — vor allem aber: Nichts geschieht aus dem Grund, der auf der Hand liegt. „Bisogno vedere dietro“, man muß also dahintergucken. Wenn Ministerpräsident Andreotti sagt, er sei müde, glaubt ihm das kein Mensch, selbst wenn er schon schnarcht: O nein — warum sagt er es gerade jetzt, um zwei Uhr nachts? Und zu wem hat er es gesagt — wem will er damit welche Botschaft übersenden? Oppositionsführer Occhetto etwa, oder seinem Regierungskompagnon und Intimfeind Craxi, dem er damit unruhige Träume wünscht? Fragen über Fragen, die den Dietrologen überfallen. Und nicht nur in der Politik. Die schlichte Bitte „Können Sie mir mal den Zucker herüberreichen“ vermag wahre Fluten von Reflexionen auszulösen — warum will er den Zucker gerade von mir, warum ausgerechnet Zucker, und warum gerade jetzt, wo ich Käse esse? Immerhin: Von der Dietrologie läßt sich's leben — die Journale zeigen es tagtäglich. Ein Bürgermeister tritt nach vierzig Dienstjahren zurück — kein Grund, an verdiente Pensionsgedanken des Mannes zu glauben, nein, das kann nur politisch motiviert sein oder durch einen Skandal in der Familie. Ein Skifahrer bricht sich beim Fußballspielen den Knöchel — das kann kein normaler Unfall sein, wozu spielt der überhaupt Fußball, und mit wem — und wer hat da draufgehauen? Sabotage? Eifersucht? Geheimdienst?

Italiens Zeitungen zählen auf dem alten Kontinent zu den auflagenstärksten — tatsächlich ernähren die Blätter ihre Leser weniger durch handfeste Fakten, sondern vor allem durch Verzapfen immer neuer Mutmaßungen über das „dietro“ ansonsten stinknormaler Vorgänge wie Scheidungen, Kunstdiebstahl oder Formtiefs. Und noch andere profitieren von der Dietrologie: die dunklen Gestalten der Mafia und anderer verschworener Zirkel. Langzeituntersuchungen belegen, daß ein Großteil ihrer Morde weder direkt etwas mit ihren Geschäften, noch mit Ehrenkodices oder Rache zu tun haben, sondern nur den Mafia-Mythos von Allmacht und Allgegenwart stärken sollen. Denn: Wo immer im Süden jemand erschossen wird, konstruiert sich die Öffentlichkeit das Motiv dazu. Als auf dem Grünen Markt in Palermo drei Männer erschossen wurden, titelte 'L'Ora‘: „Auch die jungen Ermordeten waren Killer“. Im Artikel selbst, und auch später, kam nichts dergleichen zutage; doch der Automatismus war frappierend: Drei Tote, die müssen etwas mit der Mafia zu tun haben... Gäbe es die Dietrologie nicht, die Mafia hätte sie erfinden müssen. Vielleicht hat sie sie sogar erfunden. Bisogno vedere dietro...