DIE WAHRHEIT: Zwischen Pest und Cholera
Irlands Fußballfans sitzen in der Zwickmühle. Wen soll man heute zum Auftakt der Gruppe D bei der Europameisterschaft in Donezk unterstützen?
I rlands Fußballfans sitzen in der Zwickmühle. Wen soll man heute zum Auftakt der Gruppe D bei der Europameisterschaft in Donezk unterstützen? Die fiesen Franzosen oder die ekligen Engländer? Die einen haben den Iren die Teilnahme an der letzten Weltmeisterschaft durch ein eklatantes Handspiel Thierry Henrys vermasselt, die anderen haben den Iren 800 Jahre lang alles mögliche vermasselt. Bei genauerer Betrachtung ist Henrys Gemeinheit wohl weniger schwerwiegend.
Und diesmal sind die Iren beim Turnier ja dabei, zumindest bis nächsten Montag. Dass sie an dem Tag die Italiener schlagen, steht bereits fest. Schließlich haben sie mit Giovanni Trapattoni einen italienischen Trainer, der die Spieler in sämtliche Tricks und Geheimnisse des italienischen Fußballs eingeweiht hat. Umgekehrt haben die italienischen Spieler wahrscheinlich keine Ahnung von ihrem Gegner. Wer kennt außerhalb der keltischen Inseln schon Keith Fahey, Shane Long oder James McClean?
Seit dem Wochenende ist es übrigens recht leer auf der Grünen Insel. Rund 20.000 Fans haben sich auf den Weg nach Polen gemacht, wo Irland die drei Gruppenspiele austrägt. Viele haben sich Wohnmobile geliehen, manche sind schon vor Wochen mit dem Fahrrad aufgebrochen, andere haben mit polnischen Nichtfußballfans die Häuser getauscht. Die meisten Fans haben allerdings keine Tickets für die Spiele, wollten aber wenigstens in der Nähe sein, wenn nach den Spielen die wilden Partys ausbrechen.
Meine Freunde John und Noirín hatten auch erst Flug und Unterkunft gebucht. Dann, vor zwei Wochen, erzählte Noirín, dass ihr ein langjähriger Gewerkschaftskollege zwei Karten für das irische Spiel gegen Kroatien in Posen angeboten habe. John hüpfte vor Freude im Wohnzimmer herum, bis Noirín hinzufügte, dass die Tickets nicht für nebeneinander liegende Plätze, sondern für verschiedenen Blöcke galten. John blieb jäh auf einem Bein stehen und fragte sorgenvoll: „Ja und?“
Sie habe natürlich abgelehnt, meinte Noirín, denn John wolle doch sicher nicht alleine neben wildfremden Menschen sitzen. „Doch“, flüsterte John und raufte sich die Haare. „Das hätte ich in Kauf genommen.“ Als er anfing, leise zu weinen, klärte Noirín ihn auf, dass sie nur einen Witz gemacht habe. Die Daheimgebliebenen haben sich unterdessen mit allerlei Fan-Utensilien versorgt. Das ganze Land ist beflaggt, manche haben sich die Haare grün gefärbt, als ob der St. Patrick’s Day vor der Tür stünde, ein Nachbar hat sein Auto grün lackiert.
Ich habe mir lediglich ein Paar grün-weiß-oranges Jäckchen für die Außenspiegel gekauft – für die Rückseite, versteht sich. Ehemalige Freunde brachten mir aus der Apotheke Haarspangen in den irischen Nationalfarben mit, was in Anbetracht meiner schütteren Frisur als Bosheit eingestuft werden muss. So etwas fällt nur Engländern ein. Ich werde mir heute Abend im Gegenzug die Haarspangen mit Tesafilm an die Schläfen kleben und die Franzosen aus Leibeskräften anfeuern – trotz Thierry Henry.
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