DIE USA ZEIGEN: MIT NIEDRIGLÖHNEN SCHAFFT MAN KEINE NEUEN JOBS : Das verklärte Vorbild
Klingt für Europäer eher langweilig: Heute Nacht treffen sich US-Präsident Bush und sein Herausforderer Kerry zwar zu ihrer dritten Fernsehdebatte, aber sie soll sich nur um Innenpolitisches drehen. Doch geht es um Brisantes, wie eine neueste unabhängige US-Studie zeigt, die nicht zufällig gerade gestern vom „Working Poor Families Project“ publiziert wurde: Das Lohnniveau ist bei jedem fünften US-Job so niedrig, dass eine vierköpfige Familie damit unter die Armutsgrenze rutscht.
Was uns das in Deutschland interessiert? Zunächst nicht viel, so scheint’s. Zwar gibt es auch hier erwerbstätige Arme, die trotz eines Vollzeitberufs zusätzlich Sozialhilfe beantragen müssen. Aber bisher machten sie weniger als drei Prozent der Bevölkerung aus. Von amerikanischen Zuständen ist die Bundesrepublik noch weit entfernt.
Noch. Denn hierzulande gelten die USA vielen längst als das Vorbild, wie sich mit Niedriglöhnen Vollbeschäftigung erreichen lässt. Nur 5,4 Prozent Arbeitslosigkeit gibt es in den Vereinigten Staaten – wenn das kein Argument für niedrige Löhne ist.
Es ist tatsächlich keines. Denn die Statistik täuscht, die versteckte Arbeitslosigkeit in den USA ist weitaus höher – sonst könnte Kerry mit seinem Vorwurf ja gar nicht punkten, dass Bush in seiner Amtszeit etwa eine Million Jobs vernichtet habe. Bei realer Nahezu-Vollbeschäftigung wäre den Wählern diese Behauptung völlig egal.
Das scheinbare Jobwunder in den USA ist eher nominell und hat mit Definitionen zu tun. So fallen viele Erwerbslose einfach aus der Statistik, weil sie keine staatliche Unterstützung beziehen. Tatsächlich, so schätzt das Economic Policy Institute in Washington, dürfte die Arbeitslosenquote bei weit über neun Prozent liegen. Zudem sitzen mehr als zwei Millionen Menschen in Haft. Woanders wären sie wohl Langzeitarbeitslose, in Amerika sind sie Sträflinge. Und nicht zu vergessen: das riesige Militär, das auch als Beschäftigungsprogramm gerade für die Unterschichten dient.
Wer unbedingt von den USA lernen will, der muss einsehen: Armut schafft keine Jobs.
ULRIKE HERRMANN