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DIE NEUE VÖLKERWANDERUNGDas Mittelmeer und die Migrationen von morgen

Südlich des Mittelmeers hat die Geburtenrate ihren historischen Gipfel erreicht: Sechs Kinder pro Frau werden als afrikanischer Durchschnitt kalkuliert. Der reicheren nördlichen Seite, deren Bevölkerungszahl sinkt, steht eine beispiellose Einwanderungswelle ins Haus. Europa muß sich auf Afrikanisierung und Islamisierung vorbereiten. Dabei könnten sich der Norden und der Süden in mehr als einem Sinne ergänzen.  ■ VON JEAN-CLAUDE CHESNAIS

Es gibt auf der Welt drei große Gebiete demographischen Ungleichgewichts. Amerika, geteilt durch den Rio Grande, der das reiche und kinderarme angelsächsische Nordamerika vom armen und kinderreichen Lateinamerika trennt. Der pazifische Raum mit einem prosperierenden Japan auf der einen Seite, das schon seit Jahrzehnten einen Bevölkerungsrückgang verzeichnet, und auf der anderen Seite Giganten wie China und Indien, die unter Elend und Überbevölkerung leiden. Und schließlich das Mittelmeergebiet mit einem kinderarmen, aber reichen und sozial gut abgesicherten Westeuropa im Norden, und im Süden Afrika, Regionen mit einem brüchigen politischen und wirtschaftlichen Gleichgewicht, die durch einen außergewöhnlichen Bevölkerungszuwachs erschüttert werden.

Von diesen dreien hat der Mittelmeerraum das bei weitem stärkste Ungleichgewicht. Der Unterschied bei den Geburtenziffern ist hier zweimal so groß wie zu beiden Seiten des Rio Grande oder zwischen Japan und den asiatischen Riesen. Aber vor allem verschärft dieser Unterschied eine kulturelle, politische und wirtschaftliche Ungleichheit ganz anderen Ausmaßes und kann massive Bevölkerungsbewegungen nach sich ziehen.

Die Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung geographisch nahegelegener Regionen sind Quelle eines in der Geschichte beispiellosen demographischen Ungleichgewichts: Zwischen Regionen, die manchmal nur ein paar hundert Kilometer voneinander entfernt liegen, können die jeweiligen Unterschiede in der Geburtenrate von 1 bis 4 reichen. Genau das ist im Mittelmeerbecken der Fall. Auf der einen Seite, an der Nordküste, nimmt die Geburtenrate von Jahr zu Jahr ab und kündigt für die nahe Zukunft einen bedeutenden Bevölkerungsrückgang an und damit eine Bedrohung für das Überleben der Institutionen und des kulturellen Erbes der betroffenen Gesellschaften. Auf der anderen Seite, im Süden, steht die Bevölkerung in einer Phase maximalen Wachstums, und der Kinderreichtum variiert je nach Land von vier bis sieben Kindern pro Frau im Durchschnitt. Die Bevölkerung Europas ohne die Sowjetunion liegt bei etwa 500 Millionen (ohne die Länder Osteuropas etwa 400 Millionen), und wenn der europäische Teil der Sowjetunion bis zum Ural mit eingerechnet wird, bei 700 Millionen. Afrika, das im Jahr 1950 halb soviel Einwohner hatte wie Europa, hat heute mehr: 650 Millionen. Nach Vorhersagen der Vereinten Nationen könnte es in weniger als 40 Jahren eine Milliarde zusätzlicher Einwohner haben. Was die Bevölkerungsreserven des Nahen Ostens angeht, so könnte er auf 300 bis 400 Millionen Einwohner kommen, also erheblich mehr als die zu erwartende Anzahl an Überlebenden und Nachkommen der Bevölkerung, die gegenwärtig in der Europäischen Gemeinschaft lebt.

Die durch das Mittelmeer markierte demographische Spaltung ist viel tiefer als die zwischen Nord- und Südamerika. Lateinamerika hat den größten Teil des demographischen Entwicklungsschubs bereits hinter sich, denn die Geburtenrate liegt nur noch bei durchschnittlich etwa 3,5 Kindern pro Frau, nachdem sie um 1960 einen Höchststand von etwa sechs erreicht hatte. Südlich vom Mittelmeer dagegen hat die Geburtenrate ihren historischen Gipfel erreicht: In Afrika rechnet man mit sechs Kindern pro Frau im Durchschnitt, während es in der EG 1,5 sind. Überdies ist das ökonomische Ungleichgewicht unvergleichlich viel stärker als zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika. Der jeweilige Entwicklungsabstand, gemessen etwa am Verhältnis der Kaufkraft, ist zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika halb so groß wie zwischen der EG und Afrika. Die Kluft im Mittelmeerraum wird zudem noch durch die politischen Ereignisse des Jahres 1989 verschärft: Mit der Revolution und dem Beginn der Demokratie in Mittel- und Osteuropa wächst durch den Fortbestand autoritärer Regime im Süden die Frustration der jungen Generationen in diesen Ländern.

Das Zusammentreffen dieser politischen, wirtschaftlichen und demographischen Ungleichheiten kann ein Migrationspotential erzeugen, das in der Menschheitsgeschichte beispiellos wäre.

Wenn man die geographische Entfernung berücksichtigt, die Japan von seinen Nachbarn trennt, scheint das asiatische Ungleichgewicht weniger folgenschwer im Hinblick auf einen Exodus der Bevölkerung. Deshalb ein weiterer Vergleich zwischen Nord- und Südamerika zum einen und den beiden Seiten des Mittelmeers zum anderen. Die Entwicklung der Altersgruppe der 15-24jährigen vermittelt eine Vorstellung von dem potentiellen Migrationsdruck, denn die Mehrzahl der möglichen Emigranten sind junge Leute. Während der ganzen Periode von 1950 bis 1980 war das Wachstum dieser Altersgruppe etwa gleich. Aber dann beginnt ein Unterschied deutlich zu werden, der sich schlagartig verschärfen wird, denn innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre wird allein die Zunahme der jetzigen Anzahl der Angehörigen dieser Altersgruppe in Afrika fünfmal so hoch sein wie in Lateinamerika. Daher wird sich in Lateinamerika der Migrationsdruck nicht wesentlich verstärken, während er in Afrika gerade erst beginnt und die nächsten fünf Jahrzehnte zunehmend beherrschen wird.

Die Altersgruppe der 15-24jährigen umfaßte in Lateinamerika im Jahr 1960 39 Millionen und im Jahr 1980 74 Millionen; im Jahr 2000 werden es 101 Millionen und im Jahr 2020 120 Millionen sein. In Afrika entsprach die Größe dieser Gruppe bisher in etwa der in Lateinamerika erfaßten: 52 Millionen im Jahr 1960, 91 Millionen im Jahr 1980. Aber der Abstand vergrößert sich und wird während der nächsten Jahrzehnte unaufhaltsam und maßlos wachsen. Im Jahr 2000 wird die Anzahl dieser Gruppe bei über 170 Millionen liegen und zwanzig Jahre später bei 300 Millionen, also 2 1/2 mal mehr als in Lateinamerika und 4 bis 5 mal mehr als auf dem gesamten europäischen Kontinent. In Afrika kommen heute neun Kinder unter 15 Jahren auf einen Erwachsenen über 60 Jahre, während diese beiden Altersgruppen in Europa etwa gleich stark sind.

Der Gegensatz in der Verteilung der Altersgruppen auf beiden Seiten des Mittelmeers ist klar: Auf der einen Seite gibt es ein vorhersehbares Übergewicht an älterer Bevölkerung im Verhältnis zur Finanzierbarkeit der Sozialversicherungssysteme, auf der anderen Seite ein Übergewicht an jungen Leuten im Verhältnis zur Aufnahmefähigkeit des Produktionssystems. Diese Ungleichgewichte werden nach aller Wahrscheinlichkeit durch eine mehr oder weniger massive Abwanderung von jungen Leuten aus dem Süden in den Norden abgeschwächt, die die Last der demographischen Überalterung im Norden und die der Arbeitslosigkeit im Süden reduzieren kann. Wenn heute die Vereinigten Staaten das Gebiet mit der stärksten Immigration sind, kann dies morgen Europa sein.

Mit der Öffnung der Grenzen und dem Wiederaufbau der durch den Kommunismus ruinierten Ökonomien lassen sich Bevölkerungsbewegungen in der Mitte und im Osten des alten Kontinents vorhersehen; diese Bewegungen müssen nicht den gleichen strukturellen Charakter bekommen wie die Verschiebungen von Süd nach Nord, denn weder die Menschenmassen noch ihre Dynamik sind miteinander vergleichbar. (Genaugenommen müßten die osteuropäischen Länder nach der bevorstehenden Anpassungsphase selber Immigrationsländer werden.) Die Bevölkerungsstrukturen zwischen Nord und Süd könnten sich also ergänzen, und die unumgängliche Migration könnte eine Rolle als ökonomischer und demographischer Regulator übernehmen, indem sie Spannungen auf beiden Seiten abbaut und den Ländern, die Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, einen Zugang zur Entwicklung verschafft, beispielsweise durch die Überweisungen der Migranten und den Transfer von Qualifikationen. Europa muß sich also auf eine kulturelle Veränderung vorbereiten: die Afrikanisierung und Islamisierung seiner Bevölkerung. Sein Defizit an Menschen wird durch die afrikanische und in geringerem Maß auch asiatische Überzahl ausgeglichen. Die europäischen Mittelmeerländer wie Spanien und Italien müssen sich der völlig neuen Herausforderung der Migration stellen.

Der demographische Druck in den Ländern des Südens und die wirtschaftliche Attraktivität der Länder des Nordens schaffen die Ausgangsbedingungen für die Menschen. Sie verlassen den Süden, um im Norden eine Überlebensmöglichkeit zu finden. So könnten sich der Norden, der reich an Kapital und arm an Menschen ist, und der Süden, der reich an Menschen, aber arm an Kapital ist, in mehr als einem Sinn ergänzen. Die Frage ist nur, in welchem Maß die Ungleichheiten auf beiden Seiten einander entsprechen und eine wechselseitige Anpassung erlauben. Das scheint nicht der Fall zu sein: Die Asymmetrie ist weitreichend, sowohl im Hinblick auf das Kapital wie auf die Menschen, und sie wird sich verschärfen und im Lauf der nächsten Jahrzehnte einen Höhepunkt erreichen. Für die Europäische Gemeinschaft betrug das Geburtendefizit im Verhältnis zum Erhalt der bestehenden Bevölkerungszahl in der Zeit von 1975 bis 1990 etwa 15 Millionen, und es kommt heute auf etwa 1,2 Millionen pro Jahr. Hingegen liegt allein in Afrika der jährliche Geburtenüberschuß bei 15 Millionen. Von Sonderfällen abgesehen, wäre die Migration nur ein Randphänomen in der Entwicklungsstrategie der Länder des Südens; und ebensowenig kann sie ein Heilmittel für die demographische Anämie des Nordens sein, weil sie wegen des Umfangs und der Ungeregelmäßigkeit der notwendigen Ströme die Lücken nicht schließen kann.

Wird Europa, verkümmert und fröstelnd, für die Einwanderung von neuen ausländischen Arbeitskräften verschlossen bleiben, unfähig, die Gelegenheit zu nutzen? Es steht ihm ein in der Geschichte beispielloses Migrationspotential zur Verfügung. Darin liegt zweifellos ein gewisses Risiko, aber auch ein Potential unverhoffter Möglichkeiten, denn nie zuvor ist die Auswahl so groß gewesen. Eine Strukturpolitik der vorausschauenden und bewußten Regulierung der Migrationsströme ist in Zukunft unerläßlich: Die Immigration ist wie ein chemischer Prozeß; sie gelingt nur bei genauer Dosierung.

Wie kann man die Turbulenzen ausgleichen, die durch die Unterschiede zwischen Nord und Süd zwangsläufig ausgelöst werden, noch verschärft durch zunehmende Ressentiments gegen den Westen in zahlreichen islamischen Ländern? Im Norden bedarf es der Verbindung einer offensiven Bevölkerungspolitik mit einer freizügigen Immigrationspolitik, wie sie zum Beispiel in Schweden praktiziert wird; im Süden muß eine regional orientierte, durch eine wirkungsvolle interkontinentale Zusammenarbeit gestützte Entwicklungspolitik zum Tragen kommen.

Jean-Claude Chesnais ist Mitarbeiter des Pariser Institut National d Etudes Demographiques.

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