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Archiv-Artikel

DIE „NEUE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT“ IST ABENTEUER UND UNFREIHEIT Keine Chance für Cowboys

Die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ kann zufrieden sein. Selten war ein Label so erfolgreich. Inzwischen ist fast jeder Politiker dafür, sich vom „Alten“ an der sozialen Marktwirtschaft zu verabschieden. Aber wofür steht das „Neue“ eigentlich? Diese Frage dürfte den Initiatoren bizarr erscheinen: Ist doch klar! „Für Chancen für alle“ natürlich! Das sagt doch der Untertitel der Kampagne.

Chance ist ein interessantes Wort. Es sagt zunächst nichts und klingt dennoch so ungeheuer positiv. Denn was ist das, eine Chance? Chance ist, so lassen sich die vielen bunten Anzeigen der Initiative deuten, wenn möglichst wenig Staat existiert. Niedrige Steuern, niedrige Sozialabgaben, wenig Bürokratie. Eigentlich fehlt nur noch, dass ein Cowboy durchs Bild reitet. Denn letztlich träumt die Initiative von einer Gesellschaft, wie sie die Marlboro-Werbung inszeniert: lauter starke Menschen, die im weiten, freien Raum für sich selbst sorgen.

Ja, wenn wir in so einer Prärie tatsächlich leben würden, wäre gegen diese totale Freiheit nichts zu sagen. Doch man weiß ja, wie es in den USA weiterging: Irgendwann erfand man den Stacheldraht. Riesige Ranches wurden eingezäunt. Den Cowboy brauchte man nicht mehr, um die Herden zu treiben; er wurde zum Hilfsarbeiter degradiert.

„Chancen für alle“ gibt es nicht – das ist ein absurdes Versprechen –, sondern stets nur Chancen für einige. Jede Gesellschaft teilt sich in Ranchbesitzer und Gauchos. Macht, Prestige, Einkommen, Vermögen und Bildung sind immer ungleich verteilt. Aber wie ungerecht es zugeht, lässt sich durchaus steuern.

Nur: Es muss eben jemand steuern. Das macht am besten ein Staat, der sich um Fairness bemüht und sich um jene kümmert, die keine Ranch besitzen. Jedenfalls kann es nicht besonders schlau sein, die Definition von „Chance“ ausgerechnet den Ranchbesitzern zu überlassen, nur weil sie sich teure Anzeigenkampagnen leisten können. Denn der Verdacht ist ja nicht unbegründet, dass sie nur noch weitere Stacheldrahtzäune errichten wollen. Der Cowboy kehrt nicht wieder. ULRIKE HERRMANN