DIE KONSERVATIVEN WISSEN NICHT, WAS IHNEN FEHLT UND WER SIE SIND, UND FÜHREN DESHALB PROBLEMGESPRÄCHE : Gefühlte Selbstzerknirschung
VON ARAM LINTZEL
Den linken Melancholiker beschrieb Walter Benjamin 1931 als einen, dem vor allem daran gelegen sei, sich „in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen“. Beim Berliner Kommunismus-Kongress, dessen Nachbereitung andauert, wurden die Besucher Zeuge genau dieser Ruhe, die dort durch betonierten Frontalunterricht garantiert wurde. Aber gibt es auch eine Melancholie unter umgekehrten politischen Vorzeichen, eine bürgerliche, konservative? Einige Symptome deuten darauf hin.
„Was ist konservativ?“, fragte die Zeit kürzlich, „Wie konservativ sind wir?“, will das Magazin Cicero in seiner aktuelle Ausgabe wissen. Solche Grübeleien könnten Ausdruck jener „aufdringlichen Mitteilsamkeit“ sein, die Sigmund Freud beim Melancholiker diagnostizierte. Der Begriff „konservativ“ habe zwar Konjunktur, schreibt die Zeit, doch gerade deswegen liege der Verdacht nahe, dass es sich um eine „Hohlform“ handele. Im Cicero ist ähnlich miesepetrig vom „stillen Tod des Konservatismus“ die Rede, überhaupt sei der Konservatismus zur „unverbindlichen Gesinnung“ verkommen. Ein bisschen kokett ist das schon, denn wem wenn nicht den Cicero-Redakteuren traut man das Wissen über einen Konservatismus zu, der große Politik in große Geschichten packt, die von großen Männern gemacht werden. Und trotzdem hat nun auch der Konservatismus sein Beliebigkeitsproblem, und das nicht nur wegen der Meinungsanarchie in der Regierungskoalition.
Melancholisch macht den Konservativen diese Situation, weil nicht klar ist, wessen „stiller Tod “ eigentlich betrauert werden soll. Nach Sigmund Freud unterscheidet sich die Melancholie von der Trauer dadurch, dass der Objektverlust unbewusst bleibt. „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“, schreibt er. Weil er nicht weiß, was ihm fehlt, weiß der Konservative nicht mehr, wer er ist. Abhandengekommen ist somit nicht das Objekt konservativen Begehrens, sondern das Begehren selbst. Nicht zuletzt die seltsam schlaffe Neuauflage der sogenannten Schlossdebatte verrät so einiges. Von restaurativer Begeisterung ist nichts zu spüren, stattdessen verlieren sich die Schlossnerds in den technokratischen Details möglicher Nutzungskonzepte.
Wenn das Begehren weg ist, ist innere Leere das Ergebnis. So lässt sich erklären, warum der Konservatismus neuerdings das Problemgespräch sucht. Dieses bleibt nicht frei von Selbstvorwürfen. Freud beobachtete beim Schwermütigen eine „Herabsetzung des Selbstgefühls“. Anders als durch den unbewussten Drang zu Selbstbestrafung lässt sich auch kaum erklären, warum die Bundespräsidentenwahl zur Tortur für das „bürgerliche Lager“ werden musste. Selbst der schon öfters kritisierte neu-prollig dröhnende Auftritt einiger Neukonservativer aus dem FDP-Kontext verrät den Melancholiker, bei dem „das Ich sich herabwürdigt und gegen sich wütet“ (Freud). Normalerweise verspürt der Konservative Ekel bei der lärmenden Störung des zivilisierten öffentlichen Raums durch neue gefährliche „Unterschichten“. Jetzt tritt er die bürgerliche Benimmkultur selbst mit Füßen und gerät damit ins Fahrwasser dessen, wovon er sich sonst abgrenzte. Könnte dieser autoaggressive Verzicht des Neuen Bürgers auf Distinktion ein Zeichen jener narzisstischen Regression sein, die zum Melancholie-Befund gehört?
Andererseits ist das mit der Selbstzerknirschung halb so schlimm. Schließlich gilt die Melancholie als ein ziemlich aktuelles Gefühl. In einer postfordistischen Phase, in der das Selbst immerzu möglichst intensiv erleben soll, scheint das vernebelte, gebrochene und zweifelnde Gefühl der Melancholie das richtige Gefühl im falschen zu sein – eine „emotionale Wahrheit“ (Esther Buss), die besser zu den Verhältnissen passt als Wut oder Trauer. In Kunst-, Musik- und Literaturrezensionen taucht sie deshalb oft wie ein Wert an sich auf. Hätte der melancholisch gewordene Konservative sich somit hinterrücks psychokulturell modernisiert? Nun, was vom öffentlich kundgetanen Selbstzweifel zu halten ist, bleibt offen. Beim close reading mancher der oben zitierten Besinnungstexte stellt man fest, was Walter Benjamin in den Gedichten Erich Kästners vernahm: „Gequälte Stupidität: Das ist von den zweitausendjährigen Metamorphosen der Melancholie die letzte.“
■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin Foto: M. Thomann