DIE EM AUS POLNISCHER SICHT : Der Sieg ist Nebensache
MARCIN ANTOSIEWICZ
Als gebürtiger Warschauer und verliebt in meine Stadt, war ich am Tag des Eröffnungsspiels der EM 2012 sehr frustriert. Noch vor ein paar Jahren hätte ich wetten können, dass so ein großes Event nie in meinem Leben in Polen stattfinden könnte. Aber es kam – und ich war nicht dabei. Noch vor dem Spiel Polen – Griechenland habe ich die Facebookposts von meinen Freunden gelesen: „Die ganze Stadt ist eine EM-Fiesta“, „Polskaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa! In Warschau gibt’s eine kosmische Atmosphäre! Unheimlich!“, „Ich bin BEWEGT, GLÜCKLICH UND STOLZ. Wunderschön! Wunderbar! Es wäre schön, wenn die Stimmung nie enden würde!“ Fast 300.000 Menschen haben sich auf den Fanmeilen in Warschau und Wroclaw gesammelt, um zusammen das erste Match zu verfolgen. 15,5 Millionen Polen haben das Spiel im Fernsehen gesehen. Absoluter Rekord!
Natürlich hat der Fußball für viele Zuschauer gar keine so große Rolle gespielt. Viele wollten einfach prüfen, ob wir das alles rechtzeitig geschafft haben, ob die Stadien wirklich stehen, ob die hunderttausenden Fußballbegeisterten tatsächlich gekommen sind, ob sie sich bei uns wohl fühlen, ob das Ganze wirklich schon jetzt losgeht und ob wir auch eine Chance auf ein „Sommermärchen“ haben. Die Form der Mannschaft war auch wichtig, obwohl wir da nicht so große Erwartungen hegen. Aus mehreren Gründen. Nicht nur, weil die Ergebnisse in den letzten drei Jahrzehnten nicht so gut waren. Vor allem wegen der vielen Korruptionsskandale und, um es ganz diplomatisch zu sagen, unverständlichen Verhältnisse im Polnischen Fußballverband PZPN. Das Ganze bereitet nicht allzu viel Appetit, besinnungslos an unsere Jungs zu glauben, obwohl die ja auch nur Opfer dieser ganzen Situation sind. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt und es kann immer noch ein Wunder geschehen. Und vielleicht schafft ja das Dortmunder Dreieck (Lewandowski, Blaszczykowski, Piszczek) alles alleine!
Die wichtigste Begegnung für die Polen ist die bevorstehende EM-Partie im Nationalstadion in Warschau mit Russland, heute um 20.45 Uhr. Und umgekehrt. Der Allrussische Fanverein (WOB) hat einen Aufmarsch angekündigt. Vier Stunden vor dem Spiel möchten sie vom Stadion Warszawa-Powisle über die Poniatowski-Brücke bis zum Nationalstadion marschieren, um den Tag der Unabhängigkeit Russlands in der polnischen Hauptstadt zu feiern. Zunächst dachte ich, es handele sich um eine dumme Provokation, aber vielleicht müssen wir unsere russischen Freunde unterstützen. So eine demokratische Demonstration ist in Russland immer noch kaum denkbar, auch am Tag der Unabhängigkeit, deswegen sollten wir alle die Daumen drücken, dass die Russen eine freie, demokratische Kundgebung bald auch in ihrer eigenen Hauptstadt organisieren dürfen.
Auch dieses Spiel werde ich wieder nicht in Warschau sehen, sondern in Berlin im Alten Postbahnhof (Straße der Pariser Kommune 8, Eingang Mühlenstraße). Und das ist auch gut so. Denn beim Eröffnungsspiel habe ich gemerkt, dass es durchaus Spaß macht, Live-Übertragungen mit den anderen Polen, mit den Deutschen und allen anderen im Ausland anzuschauen. Bisher wurden solche Veranstaltungen in Polen immer aus dem Ausland übertragen. Jetzt schaut das Ausland auf uns, und ich kann die Reaktionen live erleben. Und die sind gut, obwohl wir nicht alle Autobahnen, Straßen und U-Bahnen fertig gebaut haben, aber die meisten schon und der Rest kommt bald. Das zeigt: Es hat sich gelohnt, in den vergangenen Jahren vor allem über die Vorbereitungen zur EM 2012 zu debattieren. Diese Europameisterschaft ist ein zivilisatorisches Projekt, das uns Polen mehr mit Westeuropa und der Ukraine verbinden soll. Ein Projekt wie Nato- und EU-Beitritt. Darauf kommt es an. Um eine EM zu gewinnen, haben wir noch genug Zeit.
■ In „15 Freunde“ schreiben Berlin-Korrespondenten über ihre Fußballnation. M. Antosiewicz arbeitet für den polnischen Staatssender TVP