DIE ARMEN STERBEN AUCH FRÜHER, WENN SIE MISERABLE JOBS HABEN : Fetisch Arbeit
Es ist schockierend: Arme sterben sehr viel früher als Reiche. In Deutschland endet ihr Leben durchschnittlich sieben Jahr eher – manche Statistiken erkennen sogar eine Differenz von zehn Jahren. Genauso erschütternd ist eine zweite Tatsache: Gegen die Krankheiten der Armen sind die Ärzte weit gehend machtlos. Auch die beste Medizin kann die Folgen von Übergewicht, Stress und mangelnder sozialer Anerkennung nicht mehr heilen. Der frühe Tod der Armen lässt sich nur verhindern, indem man die Armut bannt.
Doch stattdessen wächst die Unterschicht in Deutschland. Zwischen 1998 und 2003 stieg der Anteil der Armen von 12,1 auf 13,5 Prozent, wie der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht ausweist. Und dabei sind die Hartz-Reformen noch nicht eingerechnet. Der Ärztetag hat nun eine einfache Lösung: „Arbeit zuerst“ wurde dort gefordert. Das klingt wie das neue Motto von Bundespräsident Köhler, der „Vorfahrt für Arbeit“ proklamierte. Doch so markig diese Worte sind, der Adressat ist längst überzeugt: Auch die Bundesregierung würde nur zu gern eine „Trendwende“ auf dem Arbeitsmarkt verkünden.
So wird die Arbeit zum Fetisch. Es wird suggeriert, dass jeder Job gut ist. Leider ist es nicht so schlicht, wie die jüngsten Armutsstudien zeigen: Nicht nur die erwerbslosen Unterschichten sterben früher, sondern auch viele Arme mit Job. Denn oft macht gerade Arbeit krank. Wenn die Tätigkeit viel verlangt, aber keine Entscheidungsmöglichkeiten und keine Anerkennung bietet.
Armut hat nicht nur mit Arbeitslosigkeit zu tun; sie ist ein Synonym für Deklassierung, für die unterste soziale Sprosse. Nun ist eine Gesellschaft ohne Hierarchien nicht denkbar. Selbst in Skandinavien, relativ egalitär, sterben die Ärmeren deutlich früher als die Reicheren. Das ist kein Grund, nicht mehr Geld in Chancengleichheit zu investieren. Vor allem aber sollte man aufhören, den Unterschichten zu unterstellen, sie seien faul und müssten „gefördert“ werden. Nein, sie sind die Opfer, die das Gesamtgefüge der Gesellschaft stabilisieren. ULRIKE HERRMANN