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DIE ALTE ERDEDas Chaos, Top-Agent der Freiheit

Chaos zwingt auch die Natur zu Innovation und Phantasie.  ■ VON MATHIAS BRÖCKERS

Die Wiederentdeckung des Chaos ist zweifellos mehr als eine pop-wissenschaftliche Mode. Auch wenn seltsame Attraktoren, Apfelmännchen, die endlos mäandernden Strukturen der Mandelbrot-Graphiken in den letzten Jahren zu einem Kult- und Kunstobjekt geworden sind. Fraktale Geometrie, die „gebrochene“ Geometrie der Natur, direkt vom Labortisch der Mathematiker. Als faszinierendes Werkzeug der Naturbetrachtung wird die Chaos-Theorie längst mit den beiden wissenschaftlichen Revolutionen des Jahrhunderts, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, verglichen.

Doch es ist nicht nur die erst mit dem Computer-Auge sichtbare Schönheit der Fraktale, die für die schnelle Akzeptanz des Chaos-Paradigmas sorgt. Die Chaostheorie aktualisiert auch ein verschüttetes Natur- und Weltverständnis, dessen dumpfe Ahnungen ihre Ideen so selbstverständlich machen: die Vorstellung, daß große, komplexe Strukturen – der Makro-Kosmos – aus kleinen Einheiten aufgebaut sein könnte, von denen jede einzelne, als Mikro-Kosmos, die Struktur des Ganzen widerspiegelt. So hatten nicht nur schon die Hermetiker im alten Ägypten und ihr Schüler Pythagoras gedacht, sondern auch die Gelehrten und Alchemisten des Mittelalters, deren erstes Gesetz „Wie oben, so unten“ durchaus als avancierte Chaos-Formel gelten kann: Erneuerung ist ohne Abstieg ins Unbeständig- Trüb-Chaotische nicht möglich.

Dies experimentell bewiesen zu haben, dafür wurde Ilya Prigogine 1977 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet – ihr hätte eigentlich der Nobelpreis für Optimismus gebührt. Denn mit den von Prigogine entdeckten „dissipativen Strukturen“ ist die Aussicht, daß nach dem Gesetz der Entropie zwangsläufig alles im „Wärmetod“ enden muß, vom Tisch – statt in ein lauwarmes Universum der Langeweile umzukippen, haben dynamische Systeme die Eigenart, spontan neue Ordnungen zu bilden. Dieses im Experiment bewiesene Prinzip Hoffnung könnte ein weiterer Grund für den raschen Durchbruch des Chaos-Paradigmas sein.

Es ermöglicht einen tiefen Einblick in den materiellen Aufbau lebender Systeme und ihre Evolution, den Prozeß der Selbstorganisation. Bakterien entwickeln die Atmosphäre, die Atmosphäre entwickelt Bakterien – gesteuert wird diese Koevolution von Mikro- und Makrokosmos durch das Prinzip der Rückkopplung. Und eben dieses Prinzip – das Ergebnis eines Prozesses immer wieder an seinen Anfang zu stellen – führt auf seinem Weg immer wieder und unwiderruflich ins Chaos, ganz gleich, ob es sich um eine mathematische Gleichung, den Öko- Kreislauf eines Fischteichs oder die Großwetterlage handelt.

An irgendeiner Stelle im System ist der Moment erreicht, an dem der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings den Ausschlag gibt und das gesamte Welt-Wetter ins Chaos zu stürzen droht – bis eine ganze Reihe von Rückkopplungsschleifen ein neues Verhalten stabilisieren. Diese Verknüpfung von Rückkopplungsschleifen nennt Prigogine „Kommunikation“ – durch diese Art von Kommunikation erhält sich das System selbst. Je näher am Chaos es agiert, desto sensibler, flexibler, kreativer muß dieses Kommunikationssystem sein, es gilt, möglichst viele Auswege vor dem Absturz offenzuhalten. Paradebeispiel für eine solche vom Chaos lebende Ordnungsvielfalt ist das menschliche Gehirn: der chemo-elektrische Zustand der Neuronen ist so instabil, daß ein winziger Reiz ausreicht, das ganze System in einen neuen Zustand zu versetzen. Der Chaospionier Hölderlin hat das seinerzeit so ausgedrückt: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – das Chaos zwingt zur Innovation, zur Kreativität, zur Phantasie, es ist der Top-Agent der Freiheit. Ohne diesen Störenfried und seinen Sog des Unvorhersehbaren ist Evolution, sind Natur und Leben undenkbar.

Für die Forschung birgt ein genaueres Verständnis des Chaos in Zukunft zahlreiche praktische Anwendungsmöglichkeiten – von der Computer-Simulation bis zu James Lovelocks planetarischer Medizin, noch bedeutender aber wird sein Einfluß auf unser Weltbild sein: Für Einstein und die Quantenphysiker stellte sich an den Grundlagen der Materie Zeit als eine dem Menschenverstand dienliche Fiktion dar, Vergangenheit und Zukunft waren austauschbar, Zeit konnte zurücklaufen. Das Chaos-Paradigma fügt dieser zeitlosen Zeit den Pfeil hinzu: an jedem Gabelungspunkt, wo winzige Größen das ganze System zur Entscheidung zwingen, werden irreversible Tatsachen geschaffen, nicht umkehrbar, nicht wiederholbar – der Zeitpfeil kann nicht umgedreht werden. Aber noch das kleinste Sandkörnchen hat die Freiheit, das ganze gewaltige Getriebe vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Mathias Bröckers

ist Redakteur der taz. Er hat mehrere Aufsätze über Chaostheorie veröffentlicht.

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