DEUTSCHLAND HAT NICHT GENUG AUS DEM ÜBERWACHUNGSSTAAT GELERNT : Mit Sicherheit weniger Freiheit
Pünktlich zum 15. Jubiläum der Maueröffnung hat das Leipziger Institut für Marktforschung in einer Umfrage herausgefunden, dass viele Westdeutsche gerne einige Errungenschaften des Ostens übernommen hätten: Polikliniken und ganztägige Kinderbetreuung etwa. Dass man damals im Einheitsrausch auf diese ostdeutsche Mitgift verzichtete, lässt sich mit ideologischen Scheuklappen erklären. Doch war man dafür wenigstens bereit, aus den schmerzhaften ostdeutschen Erfahrungen mit Zentralismus, Stasi-Überwachung und der Einschränkung individueller Freiheitsrechte Lehren für das gesamte Land zu ziehen? Leider nein.
Bereits Anfang der 90er wurde das Asylrecht quasi abgeschafft, der präventive Lauschangriff legalisiert, die Unverletzbarkeit der Wohnung eingeschränkt. Schleierfahndung und verdachtsunabhängige Kontrollen kamen in Mode, die Videoüberwachung wurde ausgeweitet. Mit den Schily-Paketen nach dem 11. September erreichten Zentralisierung und Eingriffe in Freiheitsrechte einen vorläufigen Höhepunkt. Musste vorher noch die „organisierte Kriminalität“ als Vorwand für Einschränkungen der Grundrechte herhalten, beruft man sich heute vor allem auf den Kampf gegen den Terrorismus.
Dieses zivilisatorische Rollback erfreut sich großer Popularität: Wenn es um die Sicherheit – und damit um das Wohl aller – geht, könne man doch mal die individuellen Freiheitsrechte etwas zurückstellen, so das Argument. Wer nichts zu verbergen habe, der hat ja auch nichts zu befürchten. Diese Rhetorik dürfte gelernten DDR-Bürgern nicht unbekannt sein. Schon damals wurde argumentiert: Solange sich die Gesellschaft in der vorkommunistischen Stufe befinde, so lange habe die Schutzfunktion des Rechts Vorrang vor dessen Gestaltungsfunktion. Es galt, den Frieden zu erhalten und die Gesellschaft vor dem Rückfall in den Kapitalismus zu schützen. Nur mit diesem Schutz sei der Aufbau des Sozialismus zum Wohl aller sicher. Dafür nahm man die Zurückstellung individueller Rechte in Kauf.
Eine Erkenntnis aus dem real existierenden Sozialismus sollte daher sein: Das Zurückstellen von individueller Freiheit für kollektive Sicherheit wird letztlich zum Bumerang für eine Gesellschaft. Schade, dass man sich diese Erfahrung im vereinigten Deutschland so wenig zu Eigen gemacht hat. Schließlich erhöht auch heute die Zentralisierung von Informationen zum Beispiel beim Bundeskriminalamt die Gefahr von Missbrauch. Darüber hinaus scheitert der Ansatz in der Realität, mit mehr Repression und Überwachung die Sicherheit erhöhen zu wollen. Die Gefängnisse sind voller denn je, die Kriminalität wurde nicht eingeschränkt und das Sicherheitsgefühl hat mitnichten zugenommen. Im Gegenteil: Videoüberwachung mag im ersten Moment die Illusion totaler Sicherheit nähren; auf Dauer tritt jedoch der gegensätzliche Effekt ein. Es entsteht der Eindruck, die Kriminalität sei so verbreitet, dass man deshalb zu solch drastischen Mitteln greifen müsse.
Angesicht dieser Bilanz sollten wir den 9. November auch zum Anlass nehmen, daran zu erinnern, dass es gefährlich ist, Grund- und Freiheitsrechte auf dem Altar scheinbarer Sicherheit zu opfern. Denn was Benjamin Franklin einst erkannte, gilt heute mehr denn je: „Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.“ KATJA KIPPING
KATJA KIPPING (26) ist PDS-Abgeordnete in Sachsen und Vizevorsitzende der Bundespartei