DEUTSCH-POLNISCHE VERHÄLTNISSE I: Zwei verspätete Nationen
■ Der Völkerfrühling oder die Affinitäten zwischen Deutschen und Polen
Jahrhundertelang war die deutsch-polnische Grenze die friedlichste Grenze Polens, der Austausch der Waren und Ideen ergiebig. Feudale Konflikte des Mittelalters und die Beteiligung des preußischen Soldatenstaats an den Teilungen Polens sollten die Sicht auf die positiven Grundmerkmale der deutsch-polnischen Geschichte nicht verstellen: Noch in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts waren Affinitäten der beiden Völker wichtiger als ihre Entfremdung. Beide Länder waren Agrarländer, rückständig gegenüber dem industrialisierten Westen — Frankreich und England. Beide Völker lebten, wenn auch aus geschichtlichen Gründen, ohne einheitlichen Nationalstaat. Die Polen und die Deutschen — beide waren sie „verspätete Nationen“. Diese Affinität lag der deutschen Polenfreundschaft des Vormärz zugrunde. Sie fand ihren Ausdruck in den Polenliedern von Platen und Herweg, Lieder, die deutsche Geschichtsschreiber Treitschkescher Prägung schon wenig später vergessen wollten.
Niemals konnte man, bis zur deutschen Reichsgründung 1871, von einem prinzipiellen deutsch-polnischen Interessen- und Nationalitätenkonflikt reden. Einen Konflikt mit Preußen hat es allerdings gegeben. Der Aufstieg Preußens zur europäischen Supermacht war ohne den Zerfall Polens nicht denkbar. Deshalb ist für uns Polen die Verehrung der absolutistischen preußischen Herrscher Friedrich Wihelm I. und Friedrich II. in dem demokratischen Deutschland befremdend. Aber wir Polen — Spezialisten für Leichenverehrung — können in diesem Fall Nachsicht üben.
Der Schock der Nazi-Verbrechen schien die Diagnose von einer Urfeindschaft zwischen beiden Völkern zu bestätigen und für immer festzuschreiben. Aber 1965 stellten die polnischen Bischöfe die Weichen neu und sie schrieben an die deutschen Bischöfe: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“
Seit dieser Zeit bildeten sich allmählich ein neues Gefühl der Interessengemeinschaft und neue Affinitäten. Die Polen beneideten den Wohlstand und die Demokratie in der BRD, und bemitleideten — nicht ohne gewisse Überheblichkeit gegenüber dem „preußischen Untertanengeist“ der Ostdeutschen — die DDR-Bevölkerung wegen Mangels auch an diesen kleinen Freiheiten, die sich die Polen schon im Realsozialismus erkämpft hatten. Zeitgleich verbreitete sich, zuerst in der polnischen Opposition, dann unter den bundesdeutschen Linken und später — fünf vor Zwölf — auch in den bürgerlichen Parteien der Bundesrepublik, die Einsicht, daß die gemeinsame Zuknft der Polen und der Deutschen, von der Zerstörung der Jalta-Ordnung abhängt. Dann kam Solidarność und die neue deutsche Polenfreundschaft — die massenhaften Paketentsendungen in das unter Kriegsrecht gestellte Polen Jaruzelskis. Zeitgleich — seit der Wende der achtziger Jahre — entwickelten sich die Grünen in Deutschland und die Solidarność-Bewegung in Polen. Das ist auch eine Art bindender Erfahrung.
Wer eine Zeitlang die Grünen- Versammlungen, etwa in Berlin, und Solidarność-Versammlungen in Polen in den achtziger Jahren besuchte, weiß, wovon ich rede. Diese Angst vor Entfremdung von eigener Partei- oder Gewerkschaftsprominenz, diese Lähmung der Organisation durch nicht enden wollende Diksussionen über „Basisdemokratie“ (Die Grünen) und „Manipulationen des Vorstands“ (Solidarność), und dieser für beide Bewegungen gemeinsame romantische Anspruch, die Welt zu verändern und zu erneuern.
Wenn man an der deutsch-polnischen Geschichte rubbelt und die aus dem späten 19.Jahrhundert ererbten Vorurteile aufgibt, muß man einsehen, daß die deutsch-polnische Feindschaft nur ein Charakteristikum der ersten — und hoffentlich nicht der zweiten — deutschen Einheit ist. Iacek Kubiak
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