DER ZWEIDRITTELMARATHON : Höchstens ein Fuß
Mein Vater ging joggen zu einer Zeit, als das Ganze noch Waldlauf hieß. Und noch nicht auf allen Kanälen „Fitsein im Alter“ propagiert wurde. Mein Vater war in seiner zweifarbigen kurzen Hose ein ausgemachter Pionier des selbst auferlegten Strampelns. Stolz teilte er (stellte ich mir vor) mit seiner schwitzenden Hühnerbrust (die er mir vererbte) den Westwind. Und dabei befolgte er haarklein das olympische Reglement (er war nie ein Trickser): Höchstens ein Fuß durfte den Boden berühren, die meiste Zeit schwebten zwei (wohlgeformte) Füße über dem Untergrund. Mein Vater, der sich gern als Hobbymaler gerierte und die nackten Wilden von Grosz – ohne es zu wissen – kopierte, war zumindest in einem Terrain avant la lettre: beim Waldlauf.
Mit den Jahren wurde alles zu einer unhinterfragten Routine, obwohl wir nicht wussten, ob mein Vater deshalb verschwitzt nach Hause kam, weil er durch den „Wald lief“ oder eine andere Frau als meine Mutter datete, sorry, wie sagte man damals?: „ausführte“?
So oder so – in irgendeinem Moment schlug die Natur zu: Ein Bussardmännchen, das hoch in den Ästen über die Brut des Weibchens wachte, ging, als mein Vater in sein Sichtfeld joggte, oder wie man damals sagte, waldlief, in den Sturzflug über. Als mein Vater aus dem Auto vor unserer Doppelhaushälfte aus dem Auto stieg, war sein Trikot bereits blutgetränkt. Der Greif hatte ihm eine Mensur geschlagen und – gelinde gesagt – verschreckt.
Gestern lief ich mit meinem Schulfreund, der inzwischen im Untergeschoss der Charité Schädel hin und her schiebt, einen Marathon. Wir versuchten es. Gehend. Start: Hohenzollerdamm, wir kamen bis zum Kleistpark. 33,2 Kilometer. Gehend. Nicht joggend. Bitte. 6 Kilometer die Stunde. Mein Vater schrieb mir eine Mail. Du, so viel hab ich nie im Leben am Stück zurückgelegt. Chapeau! TIMO BERGER