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Archiv-Artikel

DER KANZLER ÄRGERT KINDERLOSE, ANSTATT DIE PFLEGE ZU REFORMIEREN Der Schröder-Defekt schlägt wieder zu

Das Schöne an einer Reform ist, dass sie einen Gewinn verspricht. Eigentlich. Denn die Reformen der SPD funktionieren leider anders. Neuestes Beispiel: die Pflegeversicherung. Laut Verfassungsgericht müssen Eltern in der Pflegeversicherung entlastet werden, weil sie schon einen Beitrag in Form von späteren Einzahlern leisten. Leider widerspricht diese Logik allen Erkenntnissen darüber, was Eltern wirklich benötigen: nicht 3, 6 oder 8 Euro mehr im Monat, sondern eine gute öffentliche Kinderbetreuung. Auf der anderen Seite hat die Pflegeversicherung ohnehin schon ein Defizit. Und es gibt eine große Gruppe von Pflegebedürftigen, die bei der Einführung der Versicherung vergessen wurden: die Demenzkranken. Sie müssten eigentlich dringend einbezogen werden, was aber noch einmal viel Geld kosten würde.

Nun muss man das Urteil natürlich trotzdem umsetzen. Den Eltern helfen die paar Euro wenig, der Versicherung tun sie sehr weh, also wäre eine Minimallösung sinnvoll, die zugleich in eine Reform der Pflegeversicherung eingebettet wäre. Exakt das hatte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt Anfang des Jahres vor: Eltern sollten so lang entlastet werden, wie die Kinder ihnen auf der Tasche liegen, also etwa so lange, wie sie Kindergeld erhalten. Ansonsten hätten alle 2,50 Euro mehr gezahlt, und die Dementen wären endlich versorgt gewesen. Das wäre ein handfester Gewinn. Nun aber bekommen wir etwas ganz anderes: Eltern werden großzügig entlastet. Alle, die jemals Kinder erzogen haben, dürfen ihr Leben lang weniger einzahlen. Und die Kinderlosen zahlen allein mehr – und zwar viel mehr, als Schmidt ihnen aufbürden wollte. Weil aber nun nur die wenigen Kinderlosen mehr zahlen, kommt dennoch weniger in die Kasse. Das heißt: Die Demenzkranken werden weiterhin kein Geld bekommen.

Was ist passiert? Wir haben ein lupenreines Beispiel des klassischen Schröder-Defekts: Statt einer rationalen und umfassenden Strategie zu folgen und darauf zu vertrauen, dass man die auch vermitteln kann, regiert der Kanzler nach Stimmungslage. Umfragen im Keller? Dann keine Belastungen mehr. Mit den paar Kinderlosen kann man’s aufnehmen. Die haben keine Lobby. Vor einer Bild-Schlagzeile: „Kanzler schröpft uns alle auch noch bei der Pflege“ dagegen graust es Schröder. Deshalb wird die Pflegekasse eben nicht solidarisch saniert, wozu nach einer gewissen Entlastungszeit der Eltern alle beigetragen hätten. Man hätte vielleicht böse Schlagzeilen gehabt, aber dafür auch eine Pflegeversicherung, die funktioniert. Jetzt hat man ein Loch gestopft, nächstes Jahr ist ein neues da, und kein einziges Problem ist gelöst. Wer will schon solche Reformen? HEIDE OESTREICH