DER FALSCHE TRAUM VOM RHEINISCHEN BÖRSENKAPITALISMUS : Am Ende macht’s ein reicher Onkel
Früher haben sich die Deutschen gefreut, wenn der reiche Onkel aus Amerika ihnen eine Portion Dollars über den Teich schicken wollte. Jetzt schwenken gleich zwei Onkels milliardenschwere Geldsäcke, und die Deutschen versuchen alles, um nicht davon getroffen zu werden. Die Geldsäcke kommen von den zentralen Schaltstellen des Kapitalismus, den beiden Börsen in New York. Reicher Onkel I, die New York Stock Exchange (NYSE), ist gerade selbst an die Börse gegangen und hat dabei ein paar Milliarden eingesammelt, die in Europa ausgegeben werden sollen. Dann kommt Reicher Onkel II, die Nasdaq, und legt schon mal ein Kaufangebot für die Londoner Börse auf den Tisch.
Jetzt könnten sich die Onkels gegenseitig im Kampf um London überbieten. Oder die NYSE geht in Paris shoppen, wo ihr die Vierländerbörse Euronext gut ins Konzept passen könnte. Mit denen wollten schon immer die Deutschen fusionieren, aber weil man sich nie einigen konnte, ob die Zentrale dann in Frankfurt, Paris oder Amsterdam sitzt, hat das auch noch nie geklappt. Nun würde New York draus – und die Euronext-Aktionäre bekämen bestimmt wesentlich mehr Geld für ihre Anteile als bei einer Fusion mit der ärmlichen Deutschen Börse. Das möchten aber die Regierungen in Paris und Berlin: Sie haben ja schließlich nicht den Euro eingeführt, damit die Dollarbörsen das Geschäft mit den Euroaktien machen.
Eine schnelle und lautlose Fusion von Deutscher Börse und Euronext könnte deshalb wie ein Aufbäumen des rheinischen Kapitalismus gegen den Shareholder-Value-Aggressor erscheinen. Aber das Bild ist gleich dreifach schief: Erstens ist die Deutsche Börse mehrheitlich im Besitz von angelsächsischen Investoren. Zweitens ist „Börse“ heutzutage kein fieses Superhirn, sondern nicht mehr als ein Zentralcomputer, der den gesamten Handel steuert. Und drittens lehrt die Erfahrung mit reichen Onkels aus Amerika, dass sie sich nicht so einfach abwimmeln lassen. Wenn sich jetzt die kontinentaleuropäischen Börsen trotzig zusammenschließen, werden sie eben hinterher als Gesamtpaket gekauft. DETLEF GÜRTLER