: DEBATTEN
■ Hans-Dietrich Dahnke / Bernd Leistner: "Debatten und Kontroversen - Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts"
Anfang des Jahres erschien im Ostberliner Aufbau-Verlag, herausgegeben von Hans-Dietrich Dahnke und Bernd Leistner, ein zweibändiges Werk „Debatten und Kontroversen Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18.Jahrhunderts“. In dreizehn Kapiteln werden Auseinandersetzungen wie beispielsweise die um Schillers „Die Götter Griechenlands“, die die preußische Reaktion auf den Plan riefen und Wöllners Religionsedikt provozierten, oder „Xenienstreit“ und „Athenäum-Polemiken“ ausführlich geschildert und gewürdigt. Als das Buch herauskam, las ich es als ein großes Plädoyer für Debatte und Kontroverse. Die stellenweise begeisterte Schilderung der Streitigkeiten der Literaten um 1800 schien mir ein codierter Aufruf zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit in der DDR, eine Animation zu „mehr Demokratie wagen“. Wer die Zensur um 1800 kritisierte, wie konnte der die, der seine Kritik vorgelegen hatte, billigen? Wie las der Zensor die Seiten über seine Amtsvorgänger? Natürlich mußte ich Sätze aus dem einleitenden Beitrag der Herausgeber „Von der 'Gelehrtenrepublik‘ zur 'Guerre ouverte'“ auf die Situation der DDR beziehen. Die permanente Zweideutigkeit dieser Texte macht ihren Hauptreiz aus. Sätze wie die folgenden sind so gekonnt doppelsinnig, daß man ihre Autoren aus ästhetischen Gründen um ihre Schreibsituation beneiden konnte:
„Kants geschichtsphilosophisches Konzept gründete auf der Vorstellung, daß der anzutreffende Zustand der Gesellschaft ein zwanghafter, gleichsam pathologischer sei und daß die Überwindung solchen Zustands im Zuge einer Entwicklung erfolgen müsse, die zu einer gesellschaftlichen Ordnung als moralisch autonomes, ideal sich leitendes, Egoismen neutralisierendes Ganzes führe. Damit eine derartige Selbstformierung der Gesellschaft allerdings statthaben könne, sei die freie Austragung der Widersprüche vonnöten...“ Die Pointe dieses Palimpsestes ist, daß die „Selbstformierung der Gesellschaft“ nichts anderes ist als ein altes Wort für Sozialismus, gleichzeitig aber im genauesten Gegensatz zum Staatssozialismus der DDR steht. Eine aufregende, ungemein anregende Lektüre - weit über die historisch-literarische Aufklärung, die sie detailliert und voller Hinweise auch auf entlegene Texte bietet, hinaus.
Daß „Debatten und Kontroversen“ freilich so schnell die Realität des real existierenden Sozialismus der DDR bestimmen würden, damit hatte ich und hatten wohl auch die Autoren Anfang des Jahres nicht gerechnet. Heute beginnt sich Patina auf die hinreißende Doppeldeutigkeit der Beiträge zu legen. Schmuggelware scheint nicht mehr gefragt. Klartext ist verlangt. Das ist leider oft um Längen weniger reizvoll.
Debatten und Kontroversen - Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18.Jahrhunderts. Herausgegeben von Hans-Dietrich Dahnke und Bernd Leistner. Zwei Bände. Aufbau-Verlag, 970 Seiten, 60 Mark.
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