DEBATTE: „Ökologischer New Deal“
■ Im Osten Deutschlands den Ausstieg aus der Wachstumslogik wagen
Der Schuldige scheint gefunden: Lohnerhöhungen, die der Produktionsentwicklung davoneilen, strangulieren den Aufschwung Ost. Das Argument klingt plausibel, mit der konkreten Realität der meisten Ostbetriebe hat es jedoch nur wenig zu tun. Im Osten investierende Westunternehmer kalkulieren schon jetzt mit einer baldigen Anpassung des Lohnniveaus. Auch der handwerklich orientierte Mittelstand und die konsumnahen Dienstleister haben von Lohnerhöhungen nichts zu befürchten. Im Gegenteil: Sie würden von der steigenden Nachfrage profitieren.
Bleiben die schwerer verkäuflichen Treuhand-Unternehmen. Auch für sie sind die Löhne nicht das Hauptproblem, sondern sie leiden unter den zusammengebrochenen Binnen- und Exportmärkten. Trotz Rationalisierungen und Massenentlassungen bleibt ihre Produktivität relativ niedrig, weil sie ihre Kapazitäten nicht auslasten können. Wo aber Absatzmärkte vorhanden sind, steigt auch im Osten die Produktivität schneller als die Löhne. Niedrige Löhne und die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte verstärken den Trend zu technologisch wenig anspruchsvollen und arbeitsintensiven Produktionslinien. Dadurch gerät die Ex-DDR in eine langfristig aussichtslose Konkurrenz zu typischen Billiglohnländern.
Angesichts der laufenden Tarifverhandlungen plädieren viele für Lohnzurückhaltung im Westen, weil dadurch der „Lohndruck“ im Osten gemildert werde. Sicher ist es sinnvoll, daß gutverdienende Westarbeiter zur Entwicklung im Osten beitragen. Das könnte aber besser dadurch geschehen, daß sie ihre erkämpften realen Lohnzuwächse für einen eigenen Investitionsfonds Ost zur Verfügung stellen. Niemand kann plausibel begründen, warum der Aufschwung Ost von einer Umverteilung zwischen Arbeit und Kapital abhängig ist. Die Westunternehmen verfügten 1991 über liquide Investitionsmittel von mehr als 680 Milliarden DM. Was fehlt, sind profitable Investitionsmöglichkeiten.
Vollbeschäftigung ade
Das entscheidende Problem der neuen Länder sind nicht die Löhne, sondern die fehlenden Märkte. Die westlichen Ökonomien stehen vor ähnlichen Schwierigkeiten: Weil die Ausweitung der industriellen Massenproduktion mit dem Produktivitätsfortschritt nicht mehr mithält, stagniert die Zahl der Industriearbeitsplätze. Vollbeschäftigung gehört der Vergangenheit an. Das eröffnet einen Teufelskreis. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit begrenzt die Lohnzuwächse und die Kaufkraft. Wachstum kann in vielen Bereichen nur noch über Verdrängungswettbewerb erzielt werden. Gemeinsam mit der zunehmenden Internationalisierung des Kapitals führt dies zu einer Verschärfung der internationalen Standortkonkurrenz. Durch Begrenzung der Gewerkschaftsmacht, Einschränkung der Sozialleistungen und verstärkte Technologieförderung versuchen die verschiedenen nationalen Ökonomien, Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Dadurch wird der industrielle Produktivitätsfortschritt weiter angeheizt, während gleichzeitig die Massenkaufkraft stagniert. Die alte BRD gehörte bisher zu den Gewinnern dieses Konkurrenzkreislaufes. Durch steigende Exportüberschüsse konnte auch die strukturelle Krise exportiert werden. Seit der Wiedervereinigung funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr.
Kollektive Güter statt Massenkonsum
Das vereinigte Deutschland steht vor einer neuen Herausforderung: Der zerfallene Wachstumskonsens der Nachkriegsjahre muß durch einen neuen sozialökologischen „Gesellschaftsvertrag“ ersetzt werden, der in der Lage ist, diesen selbstzerstörerischen Konkurrenzkreislauf zu durchbrechen. Die wesentlichen Bestandteile eines solchen „ökologischen New Deals“ sind: 1. Verlagerung des ökonomischen Schwergewichtes von schnellebigen Massenkonsumgütern zum ökologischen Umbau der alten Produktionstechnologie sowie zu neuen sozialökologischen Produkten und Dienstleistungen. 2. eine radikale Arbeitszeitverkürzung und eine schrittweise Ausweitung derjenigen Tätigkeiten und Reproduktionsleistungen, die nicht über Geld und Markt vermittelt werden. 3. die Umverteilung des dadurch eintretenden Zugewinns an Lebensqualität und persönlichen Entwicklungschancen von oben nach unten und von West nach Ost.
Bisher wurde diese Lösungsperspektive u.a. dadurch blockiert, daß neue Bedürfnisse nach ökologischen Produktionstechnologien und Produkten sowie nach einer soziokulturell ansprechenderen Lebensumwelt auf dem Markt nicht als zahlungskräftige Nachfrage auftauchen konnten. Die meisten dieser neuen Produkte und Dienstleistungen sind „kollektive Güter“, die trotz bestehenden Bedarfs individuell nur sehr begrenzt nachgefragt werden können. Ein neues Auto kann man kaufen, gesunde Wälder nicht. Also kauft „man“ Autos, um dorthin zu fahren, wo die Wälder noch grün sind.
In den fünf neuen Ländern bietet sich die Chance, diesen fatalen Mechanismus zu durchbrechen. Zwei Drittel ihres Sozialproduktes stammen aus öffentlichen Transfermitteln. Anstatt für leerstehende Industrieparks, Autobahnanschlüsse und wahllose Investitionszuschüsse könnten sie dafür genutzt werden, daß neue Bedürfnisse nach einer lebenswerten Umwelt, nach reparierten Städten, öffentlichen Verkehrsmitteln, gesunden Nahrungsmitteln, nach langlebigeren und rohstoffsparenden Produkten, nach naturverträglichen Produktionstechniken und nach neuen soziokulturellen Dienstleistungen auch auf dem Markt als Nachfrage erscheinen. Diese Politik der gezielten öffentlichen Induktion neuer Märkte muß mit dem Aufbau entsprechender regionaler Anbieter verbunden werden. Diese sollten bei der Vergabe der öffentlichen Mittel durch Local- Kontent-Klauseln bevorzugt werden. An die Stelle wahlloser Investitionshilfen sollten qualitativ gezielte und projektgebundene Fördermittel treten, die durch regionale Entwicklungsträger vergeben werden.
Die Voraussetzungen sind gut. Eine Untersuchung des DIW ergab, daß die Industriestruktur der neuen Länder für eine Spezialisierung auf neue Ökoprodukte bestens geeignet ist. Um den Umbau im Osten mit einer ökologischen Umgewichtung im Westen zu verklammern, könnten die notwendigen Transferleistungen u.a. durch eine Luxussteuer auf ökologisch besonders schädliche Konsumgüter des gehobenen Bedarfs finanziert werden.
Eine Überstundensteuer
Gleichgültig, welche Entwicklungsstrategie gewählt wird, die hohe Beschäftigungsquote der alten DDR gehört der Vergangenheit an. Bisher ging der Abbau einseitig auf Kosten der Alten, der Schulabgänger und der Frauen. Die knapper werdende Arbeitszeit muß gerechter verteilt, das heißt, die Arbeitszeit muß verkürzt werden. Gegenwärtig sind die Gewerkschaften weder gewillt noch in der Lage, im Osten nennenswerte Arbeitszeitverkürzungen durchzusetzen. Das liegt an den begrenzten Verteilungsspielräumen, den noch viel zu niedrigen Löhnen und an der verständlichen konsumistischen Grundorientierung der meisten Ostbürger. Deshalb muß der Staat einspringen. Die Bundesregierung könnte eine Abgabe auf Überstunden erheben, aus der im Osten ein befristeter Lohnausgleich für mittlere und untere Einkommen finanziert wird. Würden den Arbeitgebern für jede Überstunde zehn DM in Rechnung gestellt, ergäbe das einen Betrag von 20 Milliarden. Dem Modell der Ökosteuern entsprechend könnte die Überstundensteuer schrittweise erhöht werden. Während der ersten Jahre stünde der Finanzierungsaspekt für die Arbeitszeitverkürzung im Osten im Vordergrund, später würde die arbeitszeitverkürzende Wirkung im Westen dominieren. Durch die Befristung des Lohnausgleiches entstünde gleichzeitig in der Ex-DDR politischer Druck, langfristig eine tarifliche Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. — Nur so kann ein sozial gerechter Ausstieg aus der ökologisch unverantwortbaren Wachstumslogik gelingen. Willi Brüggen
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