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DEBATTEWider die wütende Resignation

■ Den „Komitees für Gerechtigkeit“ im Osten eine Chance

Wir lähmen sie und grollen, daß sie lahmen.Franz Grillparzer

Die Aufforderung des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Wolfgang Thierse an westdeutsche Politiker, sie sollten die schlechter werdende Stimmung in Ostdeutschland ernster nehmen, hat jedenfalls eines bislang nicht erreicht: Unser Einigungskanzler sieht auf allen Fotos noch so satt und zufrieden aus wie eh und je, er hält es auch nicht für nötig, im Bundestag über die Lage des Landes zu debattieren. Trotz aller Sorgen, die sich Thierse nicht nur im Juni 1992 macht — er spricht von wütender Resignation im Osten —, ist er sich doch in einem mit Kohl und dessen Koalition einig: eine neue ostdeutsche Sammlungsbewegung wollen sie alle nicht — Thierse nennt Diestels wieselige Aktivität „fatal“. Er sagt aber nicht, wem das Verhängnis droht.

Aufgewacht sind die Bonner nicht erst durch Diestel, über den sich von rechts bis links fast alle gründlich aufregen, sondern schon durch die Berliner Wahlen, die denen, die ohnehin nichts zu verlieren hatten, den Rücken stärkte und zu etwas Selbstbewußtsein verhalf, und zwar unabhängig davon, ob die Wähler nun wirklich PDS meinten oder nur laut gegen die großen Parteien protestieren wollten. Allmählich dämmerte den Ostdeutschen, daß sie spätestens bei der Bundestagswahl im Dezember 1990, eigentlich aber auch schon bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 gar keine freie Wahl zwischen eigenständigen Parteien gehabt hatten, sondern sich nur für oder gegen westdeutsche Parteien entscheiden konnten. Kaum einer merkte damals, daß es nicht um ein neues, anderes Deutschland ging. Am 3. Januar 1991 stand es auch ganz unverhohlen in der FAZ: „Es kommt nicht darauf an, die Bundesrepbulik zu verändern, sondern darauf, die alten Hochburgen der SED zu schleifen.“ Deshalb liefen auch Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. 7. 1990 und deutsche Einheit am 3. 10. 1990 nur nach westdeutschen Fahrplänen ab, nicht nach ökonomisch richtigen, sondern politisch opportunen.

Die Bürger der DDR hatten dem Kanzler Kohl geglaubt, als er prophezeite, es werde keinem schlechter gehen als bisher: „Im Gegenteil.“ Wie hatten sie wissen sollen, daß sie schon wieder belogen wurden? Denn es ist ja nicht wahr, daß die westdeutschen Herrschenden das Ausmaß der „40jährigen Mißwirtschaft der SED“ unterschätzt, sich verrechnet hätten. Aber wer las in jenen Tagen, zum Beispiel am 17. 2. 1990 in Frankfurt an der Oder oder Cottbus den Wirtschaftsteil der FAZ mit dem großen Bericht von Lutz Hoffmann, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, unter dem alles erklärenden Titel: „Wider die ökonomische Vernunft — Eine rasche wirtschaftliche Vereinigung mit der Bundesrepublik erschwert den Aufholprozeß der DDR/Hohe Anpassungskosten und politische Risiken.“ Nur durch die vorläufige Aufrechterhaltung zweier wirtschaftlich eigenständiger Staaten könne die DDR zu Kosten aufholen, die für beide Seiten vertretbar seien; Investitionskapital werde nur kommen, wenn es hohe Rentabilität erzielen könne. Bei rascher Währungseinheit sagte Hoffmann voraus, es könnten „etwa ein Viertel bis ein Drittel der Arbeitskräfte, wenn nicht sogar mehr, ihre Beschäftigung verlieren.“ Hoffmann widerlegte auch das Anfang 1990 viel strapazierte Argument, die rasche Währungs- und Staatssicherheit seien nötig, um die Ost-West- Wanderung einzudämmen: die einheitliche Währung beseitige nicht von sich aus die Differenzen in den Realeinkommen, die letztlich die Ursache der Wanderung seien. Alle düsteren Voraussagen waren richtig — und obwohl Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidat der SPD die hohen Erwartungen der Bürger der DDR zu dämpfen versuchte, ist 1990 nicht er, sondern der gewählt worden, der den Wählern wider besseres Wissen unverantwortliche Versprechungen gemacht hatte.

Kein Wunder also, wenn wir zwischen den beiden Teilen Deutschlands zwar keine Mauer mehr, dafür aber einen tiefen Graben haben, kein Wunder, wenn die Wut im Osten wächst und auch die Wähler im Westen von den großen Parteien nichts mehr wissen wollen, sich ihrerseits geleimt fühlen und an dem Sieg des kapitalistischen Systems keinen so großen Spaß mehr haben, seit Westdeutschland für den verlorenen Krieg endlich auch zur Kasse gebeten wird. Und nun kommen auch noch die ostdeutschen Politiker mit ihrem Aufruf daher: die Resignation soll vertrieben, die Wut aktiviert werden. Der Aufruf, „Komitees für Gerechtigkeit“ zu gründen, erinnert im Pathos an so etwas wie den Wohlfahrtsausschuß der französischen Revolution — etwas weniger Anspruch wäre wohl mehr gewesen. Aber wenigstens soll es keine neue Partei werden. Die, die sich zusammenschließen wollen, um die Menschen der früheren DDR nicht nur zu Wort kommen zu lassen, sondern ihnen auch Gehör zu verschaffen, haben in ihren eigenen Parteien schon genug Schwierigkeiten, Programme auch nur zu formulieren und glaubhaft zu vertreten. Und die Programme West taugen für den Osten nicht. Was außer einer Namensverwechslung verbindet die CDU der Länder der alten DDR mit der alten Bundes-CDU? Soweit sie aus alten DDR-CDU-Leuten besteht, ist sie als Blockpartei vor allem deshalb disqualifiziert, weil sie so tut, als habe sie mit dem SED-Regime nichts oder fast nichts zu tun gehabt, und soweit sie neue Leute gewonnen hat, kommen sie entweder aus dem Westen und verfehlen Ton und Verständnis — oder sie riechen — wie Peter-Michael Diestel — so nach DDR, daß ein Bonner CDU-Mensch das Zimmer verläßt.

Wo steht die PDS, außer da, wo die anderen nicht stehen wollen, was allerdings ein nicht geringer Vorteil ist und viel freien Platz gewährt? Aber steht sie da wirklich — und wirklich fest genug? Mit stringentem Programm und aufgearbeiteter SED- Geschichte? Ein Gysi langweilt uns zwar nicht so wie tausend durch PR- Kurse vorfabrizierte Berufspolitiker aller Westparteien, macht aber noch keinen Frühling. Und die PDS ist mit viel altem Gepäck beladen, das auszupacken und genau zu besichtigen sie noch keine Zeit hatte, weil sie von zu vielen selbstgerechten Jägern belagert wird, die aus der SED eine Partei machen möchten, deren Verbrechen die der Nazis so sehr übertreffen, daß wir über die Vergangenheit vor 1945 nicht mehr sprechen sollen.

Und wo die SPD, in welchem Teil auch immer, steht, ist schon lange gänzlich einerlei, weil man sich lange schon fragen muß, ob sie nicht die überflüssigste aller Parteien ist, eine Partei, die seit Lassalle, mindestens aber seit Ebert, nichts dazugelernt hat und aus Angst, die Partei der Vaterlandsverräter genannt zu werden, zum Passepartout des Parteienrouletts geworden ist, eine Partei, die lieber zweimal zu oft als einmal zuwenig von den Sitzen aufspringt, um das Deutschlandlied anzustimmen, wenn ein CDU-Kanzler im Bundestag ein Zehn-Punkte-Programm vorgelesen hat, an das er sich wenige Wochen später vielleicht noch erinnert, aber längst in den Papierkorb geworfen hat.

Die Startbedingungen für eine östliche Sammlungsbewegung sind nicht günstig — und doch den Versuch wert. Wer auch immer für den gegenwärtigen Zustand der fünf östlichen Länder verantwortlich zu machen ist: Mit Resignation ist keine Änderung zu erreichen. Deshalb soll diese Sammlungsbewegung ihre Chance haben — und sei es der Versuch, das Perpetuum mobile doch noch zu erfinden oder in der Retorte Gold herzustellen. Auch wenn dieser Versuch so aussieht, als solle aus dem BHE der Nachkriegszeit, dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, dem SDS, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, und der APO ein Konglomerat hergestellt werden, so könnte es politisch vielleicht doch so lange funktionieren, bis es sich von selbst erledigt wie BHE, SDS und APO. So, wie die Grünen wieder in den Bundestag gehören, sollte es gelingen, in den sogenannten neuen Bundesländern so viele Wähler zu mobilisieren, daß die alte DDR die Fünfprozenthürde aller Stimmen der ganzen Bundesrepublik überspringt — und das sind immerhin etwa 23 Prozent aller Stimmen des alten DDR-Gebiets. Diese Wählervereinigung soll im Parlament keine Mehrheitsbeschafferin wie die FDP, sondern so lange eine Mehrheitsverhinderin sein, bis die Herrschenden des deutschen Westens begreifen, daß die Einheit nicht einmal für viel Geld zu haben ist. Heinrich Senfft

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