DEBATTE: Der Mensch ohne Alternative
■ Der Fall Jesús Díaz — Anmerkungen zur kubanischen Tragödie
Iin einem Aufsatz zur Krise der europäischen Linken erinnert der Politikwissenschaftler Arnold Künzli an das Moskauer Tagebuch des ungarischen Kommunisten Ervin Sinkó, der die stalinistischen Schauprozesse in Moskau miterlebt hatte. Sinkó erklärt darin das Schweigen linker Intellektueller zu den Verbrechen des Stalinismus mit der drohenden Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging. Und er zitiert Romain Roland, der André Gides Reisebericht Retour de L'URSS mit folgenden Worten verurteilt hatte: „Solange es eine Weltgefahr des Faschismus gibt, ist es unstatthaft, zur Sowjetunion nicht bedingungslos ja zu sagen.“
„Die Erpressung mit der falschen Alternative“, so nennt Künzli die Ursache dieses Denkprinzips, demzufolge ein Übel aufhört, eines zu sein, wenn es sich durch ein zweites, größeres, relativieren läßt. Es genießt unter Linken immer noch Heimatrecht. Mir wurde dies Anfang Februar in Zürich im Gefolge jener erregten und anregenden Debatte zwischen Eduardo Galeano und Jesús Díaz bewußt, bei der Díaz sich dem Zwang zur falschen Alternative widersetzt hatte: Die US-Blockade rechtfertige nicht eine nationale Politik, die an der Option des kollektiven Todes festhalte. Nach Schluß der Veranstaltung ließen ein paar Lateinamerikaner im Publikum Fidel Castro hochleben und wünschten dem „Verräter“ Jesús Díaz den Tod.
Ich habe es auch in den Wochen und Monaten danach bei Aktivitäten der deutschen und österreichischen Solidaritätsbewegung für Kuba zu spüren bekommen, als ich auf das Schicksal des Übersetzers Jorge Pomar hinwies. Pomars brutale Festnahme, Aburteilung und Verwahrung wurde gegen die Aggressionspolitik der US-amerikanischen Regierung aufgewogen. Solange noch die Militärbasis in Guantánamo existiere, meinte etwa die Wiener Psychoanalytikerin Erika Danneberg, hätten wir Europäer kein Recht, Menschenrechtsverletzungen in Kuba anzuprangern.
Pomar wie Díaz haben sich des Verbrechens schuldig gemacht, die Losung „Sozialismus oder Tod“ als menschenfeindlich zurückzuweisen. Mit ihr ist der „Neue Mensch“ Che Guevaras zum Menschen ohne Alternative gealtert. Zusätzlich verbittert die kubanische Führung, daß es ihr nicht gelingen will, die Sorge der beiden um das Überleben der Bevölkerung und um den Fortbestand der nationalen Souveränität als Teil des Propagandafeldzuges der USA hinzustellen. Das verrät der Brief an Jesús Díaz, den Kubas Kulturminister Armando Hart in Bürokratenkreisen zirkulieren ließ, und den die FAZ vergangene Woche zusammen mit Díaz' Antwort veröffentlicht hat (siehe taz vom 18.7.): Es ist der ohnmächtige Wutausbruch gegen einen, der sich über eine stille Abmachung hinweggesetzt hat.
Diese Abmachung war im wesentlichen ein Werk Armando Harts, und sie bestand darin, kubanischen Künstlern einen unbefristeten Aufenthalt im Ausland zu genehmigen, wofür sich die Künstler durch „Treue zur Sache“ erkenntlich zeigen sollten. Mittels dieser Kulturpolitik war es Jesús Díaz möglich gewesen, die Einladung des DAAD nach Berlin anzunehmen. Daß er sich aufgrund der dramatischen Entwicklung in seiner Heimat gezwungen sah, seine Zurückhaltung als Bürger aufzugeben (als Romancier wie als Drehbuchautor hatte er stets die Grenzen des Erlaubten überschritten), betrachtet Hart jetzt als Hochverrat. Seine Reaktion beweist, daß Díaz recht hatte, als er bei der Veranstaltung der ZürcherWochenzeitung Galeanos Zuversicht bezüglich der Selbsterneuerungskraft der kubanischen Revolution nicht teilen mochte: weil der kubanische Sozialismus immer mehr dem Lehenwesen lateinamerikanischer Caudillos gleicht.
Auch Pomar besaß die nötigen Papiere, um mit dem Segen des Kulturministeriums ins Ausland zu reisen. Er hat diese Möglichkeit verworfen, weil sie ihm als Kompromiß, als Sich-Abfinden mit den Verhältnissen erschienen war. Zusammen mit der Lyrikerin María Elena Cruz Varela und dem Verlagsangestellten Fernando Velázquez Medina wurde er Ende November 1991 von einem paramilitärischen Rollkommando zusammengeschlagen, verhaftet und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Jetzt ist er der einzige politische Gefangene der Strafanstalt Ariza. Wie Jesús Díaz weist er den Anspruch der kubanischen Führung zurück, in einem Augenblick größter Gefahr das ganze Volk als Geisel zu nehmen.
Es geht in dieser Stunde nicht mehr um das Überleben der kubanischen Revolution, sondern nur noch um den möglichst langsamen Übergang zu einer marktwirtschaftlich orientierten Demokratie — „ohne Blutbad“, wie Pomar hofft, „und vor allem ohne ausländische Intervention, aber mit Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, ohne Zwangskorsett neoliberaler Programme und sogenannter Schocktherapien.“ Doch die Führung ist nicht gewillt, innenpolitische Reformen vorzunehmen. Statt dessen korrumpiert und prostituiert der Staat durch Notmaßnahmen wie den rapiden Ausbau des Tourismus und ausländische Investitionsanreize das eigene Volk. Gegen diese „Spezialperiode“ der Entwürdigung haben unabhängig voneinander Díaz und Pomar ihre Stimme erhoben. Jeder von ihnen verkörpert ein Stück der kubanischen Revolution. Jesús, weil er sie in allen Etappen ihrer Erfolge wie ihrer Irrtümer begleitet hat. Jorge, weil er ihr verdankt, was er geworden ist. Jetzt scheint die Zeit gekommen, da sich diese Revolution ihrer Revolutionäre entledigt.
In Zürich hat Díaz die Hegelsche Auffassung vom Gang der Geschichte korrigiert. Mit Blick auf die Unruhen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, mit Blick auch auf seine Heimat, meinte er, daß sich Tragödien — als Tragödien — wiederholen. Kubas Tragik liegt darin, daß seine Revolution selbst dann bedroht wäre, wenn die Führung den Druck von außen nicht gegen das eigene Volk richten würde. Der Wechsel in Nicaragua hat gezeigt, was die USA von reformwilligen Regierungen verlangen: demokratische Wahlen auszuschreiben — und diese Wahlen auch wirklich zu verlieren. Mit jedem Tag aber, an dem sich die kubanische Führung gegen den Würgegriff der USA mit Mitteln zur Wehr setzt, die nur der eigenen Bevölkerung schaden, wird die Aussicht geringer, wenigstens etwas von den sozialen Errungenschaften der Revolution zu wahren; steigt die Gefahr, daß sich die Verzweiflung der Bevölkerung in Hungerrevolten und blinder Gewalt entlädt.
Für die in Kuba lebenden Intellektuellen ist die Lage bedrohlich. Einige von ihnen, die vor einem Jahr zu einer nationalen Debatte als Voraussetzung zur Lösung der anstehenden Probleme aufgerufen hatten, sitzen hinter Schloß und Riegel. Andere wehrten sich vergeblich gegen den Mißbrauch ihrer Namen, die vom Leitungsgremium des Künstler- und Schriftstellerverbandes UNEAC unter eine Gegendeklaration gesetzt wurden. Ihr Spielraum ist denkbar klein. Schweigen kann als Zumutung wie als Einspruch gelten. Aber eine lose Gruppe mißachtet mit einer „linken Alternative“ das ungeschriebene Gesetz, sich zwischen Castro und Miami entscheiden zu müssen. Zu den Promotoren dieses illegalen Proyecto Socialista Democrático gehören unter anderem die Philosophen Sánchez Santa Cruz und Enrique Julio Patterson, der Ökonom Vladimiro Roca (Sohn eines Gründungsmitglieds der Kommunistischen Partei), die Schriftsteller Marquéz Ravelo, Díaz Martínez, Omar Pérez und Rolando Prats. Ihr Zusammenschluß mag für die Zukunft bedeutungslos bleiben: im heutigen Kuba ist er ein leises Signal, daß sich etwas zu regen beginnt, jenseits von Starrsinn und Rachsucht. Erich Hackl
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