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DEBATTE„Lebensschutz“-Rhetorik

■ Der § 218 — eine ewige Erblast? Schließlich schreiben wir das Jahr 1992

Das Abtreibungsurteil vom 25. Februar 1975 war kaum verkündet, da gab es einen kleinen Knall. Mit den besten Frauengrüßen der Roten Zora verpuffte ein Sprengsatz vor der Karlsruher Residenz des Rechts. Nicht nur bei den Revolutionären Zellen war die Enttäuschung groß — die Liberalisierung des Abtreibungsparagraphen zählte im Zeichen der neuen Frauenbewegung zu den wichtigsten Reformen der siebziger Jahre. „Die Greise haben gesprochen, aber nicht das letzte Wort“, urteilten die Leute kopfschüttelnd. Von „Rechtsfrieden“ keine Spur.

Kurz darauf wurde der Westberliner CDU-Vorsitzende Peter Lorenz Gefangener des Monats und sah in einem „Volksgefängnis“ der Bewegung 2. Juni seinem Austausch entgegen. Es wurde still um die blockierte Abtreibungsreform, die seit jenen Tagen zu den Erblasten der Bundesrepublik gehört — der alten, wohlgemerkt. Die DDR-Volkskammer verwirklichte 1972 eben jene Reform, die vor allem sozialdemokratische und kommunistische Abgordnete bereits im Reichstag der Weimarer Republik erfolglos verfochten hatten: eine schnörkellose Regelung mit Dreimonatsfrist. Das war in den 20er und 70er Jahren.

Heute schreiben wir das Jahr 1992, das Verfassungsgericht stoppt die vom Bundestag beschlossene modifizierte Fristenregelung im Eilverfahren — und alles bleibt, zumindest bis Jahresende, beim alten. Der Übergang von einem „normativen Konzept“ des Lebensschutzes — dem Indikationenmodell — zum „prinzipiell“ anderen der Fristenregelung schien dem Gericht zu gravierend, als daß ein mehrmaliger, rasch aufeinanderfolgender Wechsel der Rechtslage in Kauf genommen werden könnte. Daher, so seine These, drohe ein „schwerer Nachteil für das gemeine Wohl“. Doch war nicht der Antrag der Kläger offensichtlich unbegründet? Schließich hat sich die modifizierte Fristenregelung samt Zwangsberatung und einigen anderen Details ausgesprochen eng an den — fragwürdigen — richterlichen Vorgaben des Jahre 1975 orieniert (siehe taz vom 27. Juni).

Das Frauenrecht auf Selbstbestimmung hingegen, nach dem jede Frau das Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit hat (Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz), wurde bei den bekannten Abwägungsritualen ein weiteres Mal hintangestellt. Dabei gilt längst als Binsenweisheit, daß Strafgesetze keinen nennenswerten Einfluß auf die Abtreibungspraxis haben. In Anbetracht dieser Tatsache aber ist alles Gerede der Unionschristen von der Pflicht des Staates, gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern den moralischen Zeigefinger des Strafrechts zu erheben, sachlich haltlos: nichts als hochideologischer, moralisch aufgeblasener Fundamentalismus — politisch fruchtlos und ohne jeden Unterhaltungswert.

Ungeachtet dessen wird, wie gehabt, der Schutz des ungeborenen Lebens als ein „fundamentaler Bestandteil der Verfassungsordnung“ ausgerufen. Dem Gericht, so scheint es, fällt der Abschied vom selbstverschuldeten Mythos „Lebensschutz“ schwer. Die acht Karlsruher Richter, darunter eine Richterin, ließen die Möglichkeit ungenutzt, schon im Vorfeld ihrer eigentlichen Entscheidung Irrwege der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu verlassen. Bis auf weiteres bleiben sie in jener Lebensschutz-Ideologie befangen, die der Erste Senat 1975 konstruierte, was keineswegs auf dem Boden des Grundgesetze zu bewerkstelligen war.

Alle wollen „das Leben“ irgendwie schützen

Die gesamte Abtreibungsdebatte krankt seit geraumer Zeit daran, daß nahezu alle „das Leben“ irgendwie schützen wollen — ohne präzise sagen zu können, was es eigentlich sei und wann es beginne. Weshalb vordergründig nur über die „verfassungsmäßigen“ Wege zu diesem vagen Ziel gestritten wird. Wo der Erste Senat der Verfassungsgerichts 1975 den Werte-Grundstein legte, haben mittlerweile sehr viele emsige Aufbauhilfe geleistet — sei es aus Taktik, Heuchelei, purer Unkenntnis oder weil sie ein schlichtes Herz für Kinder haben. So sitzen alle in der selbst gestellten Falle „Lebensschutz“.

Was den einen die in brave Sozialpolitik gekleidete Frauenemanzipation ist, war, ist und bleibt den anderen das Strafrecht. Dem Lebensschutz aber dienen alle in schönster Eintracht. Diese Entwicklung kündigte sich an, als selbst die Dissenter, die das Urteil des Jahres 1975 einer ansonsten scharfen Kritik unterzogen, mit dem lebensschützenden Konsens ihrer Richterkollegen nicht brachen.

Auch der Bundestag hat kürzlich fraktionsübergreifend an der Legende vom Lebensschutz mitgewirkt. Von wegen „Sternstunde“ des Parlaments: Wer nicht nur die „Höhepunkte“ dieser Debatte im Tagesschau-Verschnitt kostete, sondern jene Sternstunden in voller Länge genoß, wird ernüchtert konstatieren: Es gab nicht nur vergleichsweise lebendige Passagen, sondern eben auch die selbstbezügliche Ergriffenheit über das freigelassene Abgeordnetengewissen, die diese Aussprache prägte. Nur zwei bemerkenswerte Beiträge fielen aus dem Rahmen — die von Christina Schenk und Konrad Weiß. Ansonsten aber: helle Aufregung über die stundenweise Suspension des Franktionszwangs und verantwortungsschwere Arbeit am Gemeinschaftswerk „vorgeburtliches Leben“.

Sternstunden des Parlaments sind folgenlos, wenn der Karlsruher Segen ausbleibt. Wer allerdings beklagt, hier drohe die höchstrichterliche Mißachtung einer Parlamentsmehrheit, möge sich mit dem Grundgesetz vertraut machen: Es konstituiert die wohl ausgedehnteste Verfassungsgerichtsbarkeit dieser Erde. Darunter eine Spezialität, die uns kaum ein Land nachmacht: die „abstrakte“, das heißt vom individuellen Rechtsschutz gelöste Normenkontrolle (Art.93Abs.1Nr.2 GG). Diese kam schon Ende der siebziger jahre ins Gerede, als die damalige CDU-Opposition mit Hilfe der Karlsruher Richter von der Kriegsdienstverweigerer-Novelle bis zum § 218 verschiedene Reformen konterkarierte.

Im Hinblick auf die gerade hier virulente Gefahr der Usurpation gesetzgeberischer Souveränität ist verschiedentlich die Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle diskutiert worden, um den Justizstaat BRD auf ein demokratieverträgliches Maß zurückzustutzen (zum Beispiel von den ehemaligen Verfassungsrichtrern Konrad Zweigert und Martin Hirsch). Die von manchem Konsens überwölbten, faden und lustlosen Debatten im Bonner Parlament nähren in der Tat den Verdacht, hier wisse ohnehin eine jede, daß die letzten großen Worte in Karlsruhe gesprochen werden. Ein Parlament, das lange schon aufgegebenes Terrain zurückgewinnen will, sollte ernsthaft die Abschaffung dieser Art der Normenkontrolle diskutieren. Damit stünde freilich das abendfüllende Thema „Verfassungsgericht und Politik“ zur Debatte. Ein weites Feld.

Wie die Sache mit dem § 218 ausgeht, ist offen. Das Verdikt des Jahres 1975 war verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig und politisch ein skandalöser Anachronismus. Um wieviel mehr müßte dies für das Jahr 1992 gelten? Ein Gericht, das nicht blindlings über die Köpfe insbesondere der Frauen hinweg judizieren will, mag sorgfältig bedenken, ob es mit einer neuerlichen Blockade der Abtreibungsreform jene Autorität, die es bei vielen noch genießt, ohne verfassungsrechtliche Not aufs Spiel setzt. Die Karlsruher mögen also das bescheidene Reformgesetz im Namen des Lebensschutzes oder in wessen Namen auch immer passieren lassen. Wenn sie nur dieser kleinen praktischen Vernunft zum überfälligen Durchbruch verhelfen, wollen wir ihnen nahezu jede Begründung verzeihen.

Der Erste Senat hat den hypertrophen Lebenschutz eingebrockt, nun müssen die Mitglieder des Zweiten sehen, wie sie die Rückzugslinie begradigen. Ob mit oder ohne ausdrücklicher Änderung der Rechtssprechung — das lassen wir getrost ihre Sorge sein. Horst Meier

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