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DDR: Augen zu und Grenzen dicht

■ Ost-Berlin stellt den visafreien Reiseverkehr in die Tschechoslowakei „bis auf weiteres“ ein

In Bonn erwartete Valentin Falin, Deutschland-Experte im ZK der KPdSU, noch „politische und juristische Regelungen“ zur Lösung des Ausreisestroms aus der DDR und eine „optimale Lösung“. Das war gestern mittag. Rund eine Stunde später reagierte Ost-Berlin mit dem genauen Gegenteil: Seit gestern ist der visafreie Reiseverkehr in die CSSR für DDR -BürgerInnen ausgesetzt. Wenige Tage vor dem 40. Jahrestag der Republik zog Erich Honecker damit die Notbremse und stoppte die Reisewelle in die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Gestern haben die DDR-Behörden den visafreien Reiseverkehr in die Tschechoslowakei bis auf weiteres ausgesetzt - in das einzige Land, in das DDR-Bürger überhaupt ohne Visum reisen konnten. Für alle Ostblockländer außer der CSSR benötigten DDR-Bürger für Privatreisen gesonderte Ausreisepapiere, die bei den Volkspolizeistellen beantragt werden müssen.

Die DDR reagierte mit der Aussetzung des visafreien Verkehrs auf den nicht abreißenden Strom von Flüchtlingen, die aus allen Teilen der Republik nach Prag reisten, um dort in den Zug in die Bundesrepublik zu steigen. Nach dem spektakulären Zugeständnis der DDR am Wochenende, alle Botschaftsbesetzer in Prag und Warschau über ihr eigenes Territorium ausreisen zu lassen, scheint Pankow sich nun keinen anderen Rat zu wissen, als diese unpopuläre Maßnahme unmittelbar vor den Jubiläumsfeierlichkeiten über ihre Bürger zu verhängen.

Die Strategie der DDR, sich durch ihre zähneknirschende Ausreiseeinwilligung dieses Problems zu entledigen, ist nicht aufgegangen. Die tschechoslowakischen Behörden waren nicht in der Lage, den Zufluß an Flüchtlingen auf das bundesdeutsche Botschaftsgebäude zu verhindern - trotz martialischer Einsätze ihrer Sicherheitskräfte. Als Begründung ihres Schritts wird die DDR auch erneut die Nichteinhaltung der Vereinbarungen mit der BRD heranführen, deren Inhalt bisher im Dunkeln blieb.

Falsch wäre es, hinter dem Vorgehen der DDR eine Eintrübung der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu vermuten. Die CSSR wird im voraus von der DDR darüber unterrichtet worden sein. Angesichts der Veränderungen in Osteuropa haben noch dieses Jahr Erich Honecker und Milos Jakes die Verbundenheit beider Staaten demonstrativ zur Schau gestellt. Anders als im Falle Ungarns dürften die tschechoslowakischen Behörden dem Aussiedlerstrom auch nicht mit soviel Wohlwollen begegnet sein.

Amtshilfe leisteten sie der DDR schon immer, indem sie den DDR-Behörden mitteilten, welche ihrer Bürger sich via Ungarn aus dem Staube machen wollten. Und Grenzbeamte notierten sich fleißig die Daten von DDR-Bürgern, die in Westbegleitung nach Prag reisten. Auch die tschechoslowakische Bevölkerung dürfte den ausreisenden DDR -Bürgern nicht so viel Sympathie entgegenbringen wie die Ungarn. Seit der Beteiligung der DDR-Truppen am Einmarsch 1968 ist ihr Verhältnis zu den DDR-Deutschen außerordentlich gespannt. Die Ost-West-Familientreffen auf dem Hradschin sind wohl erst einmal passe.

Was die DDR unter der Aussetzung des „visafreien Verkehrs“ genauer versteht, und wie lange sie gültig sein soll, bleibt offen. Schon einmal - im Falle Polens 1980 - hat sie zu dieser Maßnahme gegriffen; bis heute wurde sie nicht widerrufen. Die Einführung einer Visumpflicht muß nicht bedeuten, daß damit die Grenze für DDR-Bürger nicht mehr passierbar ist. Die jetzige Entscheidung läuft aber faktisch darauf hinaus. Solange DDR-Bürger die Flucht ergreifen oder Anzeichen dafür bestehen, wird die Grenze zur CSSR dicht bleiben. Auch Reisen in andere osteuropäische Länder, für die DDR-Bürger ein Transitvisum der CSSR benötigen, werden bis auf weiteres flachfallen müssen.

Innenpolitisch wird sich die DDR nun aber auf noch mehr Druck von Seiten der Opposition und bisher noch unbeteiligten Bürgern einstellen müssen. Die CSSR gehörte zum beliebtesten Reiseland, viele nutzten Tagesreisen zu Einkäufen im benachbarten Grenzgebiet. Die überstürzte Aktion der DDR macht deutlich, wie hilflos die Führung in Ost-Berlin den Herausforderungen im eigenen Land gegenübersteht. Die von vielen Oppositionellen und Künstlern signalisierte Gesprächsbereitschaft, die nicht einmal die Grundfesten des Sozialismus in Frage stellen will, hat sie kompromißlos ausgeschlagen. Die Chance, bereits durch zaghafte Andeutungen zur Reformbereitschaft den innenpolitischen Druck zu verringern und diskussionsbereite Kritiker miteinzubeziehen, hat die Riege der Unverbesserlichen an sich vorüberziehen lassen. Ihr Bunkerverhalten trägt pathologische Züge, ihr Vokabular, mit dem sie die großteils hausgemachten Konflikte abzubügeln versucht, bewegt sich unversöhnlich zwischen „Verrat“ und „Widerstand“. Damit wird sie ihre „Führungsrolle“ nicht mehr lange halten können - im Gegenteil, sie setzt das auf's Spiel, was sie tatsächlich in 40 Jahren DDR erreicht hat. Auch die Verbesserung ihrer Beziehungen zu Albanien wird an dem gleichnamigen Syndrom, das in der DDR grassiert, nichts ändern können.

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