DAS LETZTE MAMMUT VON MITTE WOHNT IN DER LINIENSTRASSE : Unten die Szene
VON ULRICH GUTMAIR
Routine ist der Arbeit des menschlichen Geists zuträglich. Sie hält den Arbeitsspeicher frei von Sachen, die man schon kennt. Das hat allerdings den Nachteil, dass man Gewohntes nicht mehr sieht. So ist es auch mit dem Gorilla gewesen. Der Gorilla ist eine überlebensgroße Figur, deren Fell durch lange schwarze Streifen simuliert wird, die aus Plastikfolie bestehen. Das Material ist anscheinend unzerstörbar, denn der Gorilla ist schon ewig da. Ich komme seit Jahr und Tag an ihm vorbei, schaue aber nie richtig hin. Ich kenne ihn ja schon.
Der Gorilla sitzt in einem Baum in der Linienstraße. Der Baum ist auf einer Brache gewachsen, die wahrscheinlich durch die Einwirkung einer alliierten Bombe entstanden ist. Das Vorderhaus ist jedenfalls weg. Seit einiger Zeit stehen neben dem Gorillabaum zwei übereinandergestapelte Container. Als ich auf einem nächtlichen Spaziergang an der Brache vorbeikomme, fällt mir ein, dass ich auch die Container schon mal wahrgenommen habe. Damals war es aber Tag gewesen, weswegen im oberen Container keine Videoarbeit zu sehen war. Jetzt sieht man dort einen Zeitrafferfilm. Bagger flitzen über eine fremd wirkende wüste Landschaft und reißen Häuser ab. Einer der Bagger hat keine Schaufel, sondern einen Dorn an einem langen Arm, der bis an den First des Hauses heranreicht und dank Stopptrick rasend schnell die Mauern abknabbert.
Am Ende ist die Wüstenei komplett, und alle Mauern sind weg. Es ist ein schöner Film aus einer Zeit, die von heute aus so fern erscheint wie das Pleistozän – es fehlen nur die Säbelzahntiger, die durchs Bild huschen. Bevor ich weitergehe, sehe ich mir den Gorilla an und merke und erinnere zugleich, dass der Gorilla gar kein Gorilla, sondern ein Mammut ist, das da gorillahaft im Baum sitzt.
Wir sind Kummer gewöhnt
Am nächsten Morgen gehe ich noch mal hin. Im unteren Container, in den man große Scheiben eingebaut hat, sieht man das Modell des neuen Vorderhauses, das zur Straße hin eine Lochfassade zeigt. Schön ist anders, aber in Mitte sind wir Kummer gewöhnt. Der untere Container dient als Büro. Hier soll man sich über den Erwerb von Eigentumswohnungen im renovierten Hinterhaus und im neu gebauten Vorderhaus informieren.
Es sitzt an einem Donnerstagvormittag niemand drin im Büro. Dafür tigert eine junge Frau um das Gorillamammut herum und redet in einem Tonfall in ihr Smartphone hinein, der dafür spricht, dass sie ein ins Grundsätzliche gehendes Gespräch mit ihrem Freund führt. Ich sehe mir die für Eigentumsbildung werbenden Broschüren hinter Glas an. „Die pulsierende Gegend rund um die Linienstraße zählt zu den spannendsten und lebenswertesten Orten Berlins“, heißt es da. Während ich lese, öffnet ein Mann den Deckel der zum Grundstück gehörenden Mülltonne, um nach Pfandflaschen zu sehen.
„Durchwoben vom charakteristischen Spirit der Berliner Kunstszene wird hier etablierte, anspruchsvolle Lebensqualität mit erfrischender Avantgarde in fruchtbarer Koexistenz geboten – eingebettet in ein Gründerzeitquartier, das Wurzeln verleiht und heute in neuem Glanz erstrahlt.“ Ich bekomme das kognitiv nicht so richtig zusammen – weder content wise noch grammatisch. Was sich die Kreativen so ausdenken, um ein Objekt in der Linienstraße zu bewerben! Aber bevor ich richtig darüber nachdenken kann, wird meine Aufmerksamkeit schon vom nächsten Satz in Anspruch genommen. „Mitten in Mitte ist dieses Wohnensemble das letzte seiner Art.“
Ich befinde mich demnach hier und jetzt in intimer Gesellschaft mit dem Mammut des Immobilienmarkts in der Mitte von Mitte. Ich versuche den Moment zu genießen und schaue mir alles noch mal ganz genau an. Vielleicht ist es das letzte Mal, bevor die Grube ausgehoben wird.
Auf dem Nachhauseweg komme ich an einem Immobilienbüro („Neubau, Denkmalsanierung, Grundstücksentwicklung. Seit 1995“) vorbei, dessen Slogans ich immer wieder mit Vergnügen lese, was wohl bedeutet, dass ich mich an sie nicht gewöhnen kann. „Prenzlauer Berg: Direkt unter Ihrer Dachterrasse.“ Das klingt gut. Der noch bessere Claim ist aber: „Unten die Szene: Oben die eigenen vier Wände.“ Wie immer, wenn ich hier vorbeikomme, ergänze ich an dieser Stelle leise bei mir selbst: „Und wenn’s zu laut wird: 110.“