DAS KÜNFTIGE EUROPA: „Die Supermächte bleiben militärisch dominierend“
■ Interview mit Mitterrands Ratgeber JACQUES ATTALI
Stimmen Sie der These zu, daß mit der Ost-West-Rivalität auch die Fähigkeit der USA und der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, die Weltpolitik zu beeinflussen?
Jacques Attali: Das Ende der Ost-West-Rivalität schränkt die internationale Rolle der beiden Großmächte in dem Maße ein, wie jede von ihnen besondere Gründe findet, sich mehr und mehr mit ihren internen Problemen zu befassen. Das gilt sowohl für die Sowjetunion, die vor einer gewaltigen, notwendigen Umgestaltung steht, wie auch für die Vereinigten Staaten, die ihre Zahlungsbilanz in Ordnung bringen müssen. Die beiden Supermächte bleiben weiterhin auf militärischem Gebiet dominierend, denn allen Vorhersagen nach werden sie die einzigen Nationen bleiben, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Waffen die gesamte Erde zerstören können. Beide werden sich um so besser in eine internationale Zusammenarbeit einfügen und eine friedensstiftende Rolle spielen, je besser es ihnen gelingt, ihre eigenen Probleme zu beherrschen.
Trifft es Ihrer Ansicht nach zu – und wäre es wünschenswert –, daß Europa und Japan im Begriff sind, die Rolle der beiden Großmächte in der Weltpolitik zu übernehmen?
In Zukunft wird die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR nicht durch eine Rivalität zwischen Europa und Japan ersetzt werden. Vor uns liegt vielmehr die Herausbildung von zwei großen Räumen: einem auf dem europäischen Festland und einem anderen um den Pazifischen Ozean; beide Räume werden noch sehr lange im wesentlichen mit ihrer eigenen Strukturierung und Entwicklung beschäftigt sein. Die Vereinigten Staaten, Japan und Europa werden starke Wirtschaftsmächte sein, die die Weltpolitik zunächst mehr durch ihre Finanzmittel als durch politische Maßnahmen beeinflussen werden. In einigen Jahrzehnten werden die Dinge sich ändern.
Meinen Sie, daß nationales oder nationalistisches Denken siegen wird über die Idee freiwilliger Zusammenarbeit und wechselseitiger Abhängigkeit der Länder?
Es liegt eine große Gefahr darin, daß das nationale Denken gegen Ende des Jahrhunderts den Sieg davonträgt, weil vielleicht die Fähigkeit fehlt, dem Markt und der Demokratie einheitsstiftenden Sinn zu geben. Es ist wichtig, daß sich jetzt schnell ein Denken der kontinentalen Integration entwickelt, durch die auch die Verschiedenheit bewahrt und die jeweiligen Identitäten geschützt werden können. Es ist außerdem notwendig, die internationale Wirtschaft so zu organisieren, daß die gewaltige, durch den technischen Fortschritt ermöglichte Wachstumswelle tatsächlich zum Tragen kommt, denn eine Enttäuschung ihrer Erwartungen könnte die neuen Demokratien zu nationalistischer Nostalgie verführen.
Werden die neunziger Jahre durch Nord-Süd-Konflikte gekennzeichnet sein oder vielmehr durch Süd-Süd-Konflikte mit Nord-Süd-Konsequenzen? Oder etwa durch Nord-Nord-Konflikte?
Wir stehen am Übergang zu einer multidimensionalen Welt, in der die Blöcke sich auflösen, in der die Nord-Süd-Konflikte sich auf die Migration und auf die Grenzen zwischen den Menschen auswirken, in der die Süd-Süd-Konflikte ganz allgemein damit einhergehen, daß die aus der Kolonialzeit übernommenen Grenzen wieder in Frage gestellt werden, und in der die Nord-Nord-Gegensätze aus wirtschaftlichen Rivalitäten von Großmächten, aber auch aus regionalen Rivalitäten neuer Mächte bestehen.
Wo auf der Welt sehen Sie die bedrohlichsten Brennpunkte für zukünftige Konflikte?
Die besonders ernstzunehmenden Bruchstellen liegen meiner Meinung nach in den Grenzbereichen zwischen Nord und Süd und in solchen Regionen, in denen die Landesgrenzen unklar sind. Als Grenzbereich betrachte ich Lateinamerika, den Maghreb, den Mittleren Osten, die islamischen Republiken der UdSSR und das Grenzgebiet zwischen Indien und China.
Was wird Ihrer Meinung nach in den neunziger Jahren der entscheidende Faktor im internationalen System sein: militärische Macht, wirtschaftliche Stärke, kulturelle Ausstrahlung oder ideologische Überzeugungskraft?
Der beherrschende Faktor der neunziger Jahre wird ganz sicher die wirtschaftliche Macht sein, von der die Zunahme der militärischen Macht und des kulturellen Einflusses bestimmt wird. Ich schließe nicht aus, daß es einer religiösen oder ideologischen Welle gelingt, Voraussetzungen für einen Fanatismus zu schaffen, der zerstörerisch für alle wirtschaftlichen Erfolge ist – in allen Wirtschaftssystemen. Die Weltordnung wird um zwei dominierende Räume herum strukturiert sein, in denen letzlich das Zentrum liegen wird; ich glaube nicht, daß das Zentrum irgendwo anders als in Tokio oder in der Region liegen kann, die sich von London bis Mailand erstreckt. Die Strukturierung von Europa wird darüber entscheiden, ob Europa in der Lage ist, sich ein Zentrum zu geben.
Der polnische Schriftsteller Krzysztof Pomian faßt mehrere Jahrhunderte europäischer Geschichte in der Feststelllung zusammen, daß die Nationen schließlich immer über Europa gesiegt haben. Gilt dies auch für das kommende Jahrzehnt?
Ich bin nicht so pessimistisch wie Pomian. Die Europäer wissen heute, daß die Idee der Nation schon sechs- oder siebenmal einen Krieg verursacht hat, und daß der Krieg nur durch eine kontinentale Organisation vermieden werden kann.
Welche besondere Rolle sehen sie für Ihr Land in der Welt des Jahres 2000?
Frankreich wird im innersten Zentrum des kontinentaleuropäischen Raumes liegen und hat die Aufgabe, durch seinen Sinn für das Besondere und für das Universelle gemeinsam mit anderen dazu beizutragen, der Welt zivilisatorische Ideen nahezubringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen