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DAS DEMORECHT HÄNGT NICHT VON KOMMERZ ODER SYMBOLEN ABInnenminister in schlechter Verfassung

Einst hielt es der Bundesinnenminister Hermann Höcherl für unzumutbar, das Grundgesetz ständig unterm Arm zu halten. Die bis heute anhaltende Kritik an dieser Entgleisung hielt Berlins Innensenator Körting nicht davon ab, sein Grundgesetz zu verlegen, als er sich zum Demonstrationsrecht in den Berliner Einkaufsmeilen äußerte. Körting zufolge unterliegt die Versammlungsfreiheit stets einer Grundrechtsabwägung: auf der einen Waagschale das Demonstrationsrecht, auf der anderen erstens das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit – das den Autofahrern durch Dauerstaus genommen würde – und zweitens das Eigentumsrecht, nämlich das der in ihren Verkaufschancen beeinträchtigten Gewerbetreibenden.

Vor dem Abwägen sollte man sich die Gewichte ansehen. Die Demonstrationsfreiheit gehört zum Kernbereich der Grundrechte. Das Versammlungsgesetz schränkt dieses Recht ein. Aber diese Gesetzesschranke, in Sonderheit die Klausel von einer „unmittelbaren Gefährdung der Sicherheit und Ordnung“, muss im Licht des Grundrechts interpretiert werden. Im Gegensatz zu Körtings Auffassung gibt es eine Hierarchie der Grundrechte. Und in der ist die Meinungsfreiheit und ihr kollektiver Ausdruck, die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, ganz oben angesiedelt. Körtings Ansicht verweist auf eine Schieflage in seinem Demokratieverständnis. Was taugt eine Demo für die demokratische Willensbildung, wenn sie sich fern aller Aufmerksamkeit durch Parkanlagen schlängelt, nur von Hunden und Joggern bestaunt?

Im Unterschied zu Körting, der als Jurist das Grundgesetz pflichtgemäß studierte, scheint es sein brandenburgischer Amtskollege Schönbohm nicht einmal gelesen zu haben. Anders kann sein Vorschlag nicht gewertet werden, das Versammlungsgesetz dergestalt zu ändern, dass an symbolträchtigen Tagen wie dem „Führergeburtstag“ keine Demonstrationen mehr erlaubt werden. Schönbohms plötzlich ausgebrochener Antifaschismus in allen Ehren, aber seine Idee ist nicht nur unpraktikabel (warum dann nicht auch Demos zum 1. Mai verbieten, gerechtigkeitshalber?), sondern weil grob willkürlich, auch grob verfassungswidrig.

CHRISTIAN SEMLER

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