DAS ATTENTAT VOR DEN WAHLEN IN TAIWAN ERINNERT AN FINSTERE ZEITEN : Kugeln stärken Präsidenten
Ob und wie die gestrigen Schüsse auf den taiwanesischen Präsident Chen Shui-bian und Vizepräsidentin Anette Lu die heutigen Präsidentschaftswahlen beeinflussen, ist fraglich. Zu wenig ist bisher über Täter und Motive bekannt. Neben diesen beiden Faktoren entscheiden aber vor allem die Reaktionen von Regierung und Opposition über die Auswirkungen. So verloren letztens Spaniens Konservative die Wahlen, weil sie die Urheberschaft an den Madrider Anschlägen allzu vehement der ETA unterschieben wollten und dabei nicht einmal vor Manipulationen zurückschreckten.
In Taiwan hingegen hielten sich Regierung und Opposition mit Spekulationen und Schuldzuweisungen zurück und unterließen es, die Schüsse zu instrumentalisieren. Chen und sein Herausforderer Lien Chan verhielten sich korrekt: Chen rief zur Ruhe auf und brach den ohnehin fast beendeten Wahlkampf ab, Lien äußerte Genesungswünsche und beendete den Wahlkampf ebenfalls.
Trotzdem dürften sich die Schüsse zugunsten Chens auswirken. Vor vier Jahren hatte er gegen die seit über fünfzig Jahren regierende Kuomintang-Partei (KMT) gewonnen, weil sie gespalten und mit zwei Kandidaten angetreten war. So kamen mit Chen verbündete Exdissidenten an die Macht, die früher unter der KMT-Diktatur gelitten hatten, bis sich Taiwan einschließlich der Kuomintang demokratisierte.
Inzwischen überwand die KMT ihre Spaltung, während Chen als Präsident nicht immer gut aussah. Kritiker werfen ihm vor, mit dem parallel zu den Wahlen angesetzten Referendum den Konflikt mit Peking unnötig anzuheizen, um mehr Stimmen zu bekommen. Denn China hat sich diesmal zurückgehalten und nicht, wie bei früheren Wahlen, mit Drohungen eingegriffen und damit den prochinesischen KMT-Kreisen geschadet.
Die Schüsse auf den früheren Dissidentenanwalt Chen erinnern an finstere Zeiten. Bereits 1985 war er Ziel eines mutmaßlichen Anschlags geworden, seine Frau ist seitdem querschnittsgelähmt. Damals hatte die KMT autoritär regiert, und Chens Herausforderer Lien war Minister. SVEN HANSEN