piwik no script img

Cumhuriyet-ProzessZwei sind frei

In der Türkei geht das Recht unter: Im Cumhuriyet-Prozess wurden Ahmet Şık und Murat Sabuncu freigelassen. Jetzt ist nur noch der „Kapitän“ Akın Atalay an Bord.

Foto: Denizcan Akar

Die sechste Verhandlung im Cumhuriyet-Prozess wurde 90 Kilometer von der Istanbuler City entfernt im Gerichtssaal der Haftanstalt Silivri abgehalten. Offensichtlich griff man zu dieser Lösung, weil man durch das überwältigende Publikumsinteresse bei der vorangegangenen Sitzung beunruhigt war.

Was man sich erhofft hatte, wurde allerdings durch eine Ansage zunichte gemacht: Die Zeitung Cumhuriyet hatte zwei Tage vor der Verhandlung über die sozialen Medien gemeldet, an diversen Sammelpunkten in der Stadt würden Busse für Zuschauer abfahren.

Bis vor drei Monaten hatte meine Frau Minez mich im Gefängnis Silivri besucht, diesmal machten wir uns gemeinsam auf den Weg dorthin. Nach rund zweistündiger Fahrt trafen wir an der Abzweigung zur Anstalt auf einen starken Fahrzeugkonvoi. Die Verlagerung der Verhandlung in den Außenbezirk hatte das Publikum nicht abgeschreckt, doch sicher würden noch andere Trümpfe ins Feld geführt werden.

Die etwa einhundert Autos und Busse in der Schlange wurden zwei Mal von militärischen Sondereinsatzkräften durchsucht, die Nachtsichtgeräte an den Helmen hatten, Gewehre trugen und für ein schweres Gefecht gerüstet waren. Die Ausweisdaten aller, die den Prozess beobachten wollten, wurden elektronisch überprüft. So kostete es uns beinahe eine Stunde, auch nur durch das Eingangstor der Anstalt zu kommen.

Nach diversen als „Sicherheitsvorkehrungen“ verbrämten Hindernissen schafften wir es noch vor Beginn der Verhandlung in den Saal. Als die inhaftierten Journalisten Murat Sabuncu und Ahmet Şık sowie der Anwalt Akın Atalay hereingeführt wurden, war der riesige Saal, fast so groß wie ein Fußballplatz, schon mit Vertretern internationaler Journalistenverbände, Abgeordneten, Journalisten und weiterem Publikum nahezu gefüllt.

„Mir geht’s bombastisch“

Die drei Cumhuriyet-Mitarbeiter betraten den Saal mit der bekannten Euphorie, Hoffnung und Zähigkeit. Wieder einmal wurden wir überrumpelt: Darauf eingestellt, ihnen Mut zu machen, befanden plötzlich wir uns in der Nehmerposition.

„Ich achte gut auf mich, macht euch keine Sorgen um mich“, sagte Akın Atalay. Murat Sabuncu grüßte die Anwesenden mit: „Mir geht’s bombastisch“. Und Ahmet Şık begrüßte in seiner verschmitzten Art fast jeden Kollegen einzeln.

Die Verhandlung begann mit der Anhörung von drei Zeugen der Anklage.

Die Aussagen der zur Unterstützung der Vorwürfe laut Anklageschrift gegen die Cumhuriyet-Mitarbeiter bestellten Zeugen waren zum Teil haltlos, zum Teil gingen sie nicht über Gerüchte hinaus. Sie brachten die Zuschauer im Saal wiederholt zum Lachen. Soweit ich sehen konnte, mussten sich sogar die Richter stellenweise das Lachen verkneifen. Am Ende war es zu spät: Die Aussagen, die gegen die Angeklagten verwendet werden sollten, waren zu Verteidigungsreden für sie geworden.

Als die Anwälte der Verteidigung zum Zug kamen, gab der Dialog zwischen ihnen und dem Vorsitzenden Richter bereits einen Hinweis auf den Ausgang der Verhandlung.

„Der von uns als Zeuge bestellte ehemalige Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Rıza Türmen konnte nicht kommen, weil er sich im Ausland aufhält. Er soll bei der nächsten Sitzung gehört werden“, forderten die Anwälte. Türmens Zeugenaussage ist von enormer Bedeutung, weil er die Urteile zur Presse- und Meinungsfreiheit des EGMR referieren soll, um auf das Unrecht hinzuweisen.

Der Vorsitzende Richter, aus vorangegangenen Sitzungen als streng und scharf bekannt, entgegnete: „Die gehörten Zeugen haben uns schon einen ausreichenden Eindruck verschafft. Wir wollen unser Tempo halten und glauben nicht, dass es noch nötig sein wird, Rıza Türmen anzuhören.“

Hoffnungen für Atalay auf nächste Verhandlung vertagt

Anschließend gab der Richter einen weiteren Hinweis, sowohl uns als auch den Anwälten der Cumhuriyet: Er bat darum, die Plädoyers der Verteidigung kurz zu halten. Und das tat er mit ungewohnter Milde: Ein weiteres Signal dafür, dass Freilassung zu erwarten war.

In der Türkei sind Richter dafür bekannt, bei anstehenden Freisprüchen oder Freilassungen die Sache ungern in die Länge zu ziehen. Zumindest habe ich das bei Prozessen gegen mich mehrfach beobachtet.

Nach einer langen Unterbrechung von zwei Stunden verkündete der Vorsitzende Richter das Urteil. „Murat Sabuncu will den Bosporus sehen, dann soll er hingehen und ihn sehen“, sagte er sarkastisch. Die späte Gerechtigkeit formulierte er, als erteilte er eine Gnade. Wir hatten den Schock noch nicht überwunden, da verkündete er auch für Ahmet Şık die Freilassung: „Ahmet Şıks Mutter wird angeblich eine Heilige genannt, machen wir sie nicht traurig.“

Im selben Stil kamen auch die Worte, denen wir entnehmen mussten, dass die Hoffnung auf Freilassung von Akın Atalay auf die nächste Verhandlung vertagt war: „Er bleibt noch eine Weile hier. Der Kapitän geht als Letzter von Bord.“

Der halbe Saal weinte und lachte zugleich vor Freude, doch ein Wehrmutstropfen für alle war der Beschluss zu Akın Atalay.

Es ist ja tatsächlich der Kapitän, der als Letzter von Bord geht, in diesen Worten des Richters steckt auch folgende Wahrheit: Wie ein Schiff mit vom Rost zerfressenen Rumpf geht das Recht in der Türkei rasant unter.

*Tunca Öğreten arbeitet als Investigativjournalist bei der unabhängigen Nachrichtenplattform Diken. Er wurde im Dezember 2016 zusammen mit fünf weiteren Kollegen unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation festgenommen. Den Angeklagten wird vorgeworfen, von der Hackergruppe Redhack geleakte Emails von Erdoğans Schwiegersohn und damaligen Energieministers Berat Albayrak veröffentlicht zu haben. Öğreten wurde Anfang Dezember 2017 nach fast einem Jahr Haft freigelassen.

Übersetzung: Sabine Adatepe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!