Corona und Bildung: Die Schule brennt

Die Schulpolitik aller Länder hat mit dem Insistieren auf den Präsenzunterricht Kinder und Lehrer sehenden Auges ins Desaster geführt. Warum?

In den Schulen gibt es nach zwei Jahren Covid noch immer nicht ausreichend Lüftungsgeräte Foto: Nicolas Armer dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 01.02.22 | Vergangene Woche hat die neue Schulsenatorin Astrid Sabine Busse (SPD) die Präsenzpflicht an den Berliner Schulen bis Ende Februar aufgehoben. Die Gesundheitsämter der Bezirke sind nicht mehr in der Lage, die Infektionen unter den Schülern in Berlin nachzuverfolgen und damit die Quarantäne zuverlässig zu steuern. Wegen der hohen Zahl von Infektionen (bei Kindern und Jugendlichen in manchen Schulbezirken weit über 4.000), steigen bei ihnen die schweren Covid-Erkrankungen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen; trotz insgesamt milderer Verläufe. Die Folge-Erkrankung, PIMS genannt, tritt bei den Kindern nach der überwundenen Infektion erst zeitverzögert auf, mit Ansätzen zu schweren Langzeitschäden. Die Covid-Erkrankungen unter den Lehrern haben zugenommen.

Es gibt keine genauen Zahlen, wie viele Lehrer wie oft geimpft sind und wie viele Covid-Durchbrüche trotz Booster-Impfung die Lehrer treffen. Von der Impfpflicht, die ab 15. März für die Pflegeberufe gilt, sind sie ausgenommen. In den Schulen gibt es nach zwei Jahren Covid noch immer nicht ausreichend Lüftungsgeräte und CO2-Ampeln, obwohl dafür öffentliche Mittel zur Verfügung stehen. In vielen Unterrichtsräumen lassen sich die Fenster nicht öffnen. In vielen Schulen ist schon das ganz Schuljahr kein regulärer Unterricht möglich. In vielen Klassen fehlt ständig eine große Zahl der Schüler. Die Lehrer sollen die jeweiligen Quarantäne-Schüler mit Aufgaben für zu Hause versorgen und gleichzeitig die beschulen, die gerade mal wieder anwesend sind. Das ist gleichzeitig nur schwer oder gar nicht zu schaffen. Die Folge ist, dass Lernverluste entstehen, vor allem bei den Kindern aus bildungsfernen Haushalten. Seriöse, einheitliche Leistungsbeurteilungen für alle Schüler waren schon immer schwierig, sind aber in Covid-Zeiten gar nicht mehr möglich.

Die Situation war abzusehen

Das Schlimme ist, dass diese Situation schon bei Beginn der Pandemie vor zwei Jahren absehbar war. Die Schulpolitik aller Länder und der Kommunen hat mit dem Insistieren auf den Präsenzunterricht diese Entwicklung in Kauf genommen. Sie hat Covid als ein bald erledigtes Übergangsgeschehen eingeordnet, als „Einbruch von etwas Irregulärem“ (Mark Siemons in der FAZ) ängstlich abgewehrt und deshalb auf „business as usual“ gesetzt. Ernsthafte Versuche, Covid als Chance zu nutzen, das digitale Lernen als eine der wesentlichen Kulturtechniken des 21. Jahrhunderts ins Schulsystem zu integrieren, hat es erst gar nicht gegeben. Systematische Anstrengungen, das Lehren und das Lernen zu digitalisieren, sind ausgeblieben.

Dabei sind die Techniken und Methoden für das digitale Lernen bekannt. Distanzlernen, Wechselunterricht über den ganzen Tag verteilt und in kleineren Klassen, voll digitalisierter Unterricht über Bildungsplattformen mit standardisierten Endgeräten für Lehrer und Schüler, die im Rahmen der Lehrmittelfreiheit kostenlos zur Verfügung gestellt werden: All das ist in der Bundesrepublik inselartig erprobt worden. In Mexiko sind Videokonferenzen von Lehrern und Schülern für 30 Millionen Schüler schulischer Alltag. In Estland gibt es für alle Schüler einen elektronischen Schulranzen. In Südkorea wird mit elektronischen Schulbüchern gelernt. Übrigens wird auch an vielen Universitäten in der Bundesrepublik inzwischen zur Abwehr von Covid-Infektionen komplett virtuell studiert.

Modernisierungen schon im Ansatz abgeblockt

Die Schulpolitiker in der Bundesrepublik aber bestehen grundsätzlich weiter auf der Präsenzpflicht. Jeder Ansatz zu einer digitalen Modernisierung von Lehre und Lernen wird abgeblockt. Dabei könnten die Folgen der Covid-Pandemie dazu genutzt werden, den heute gültigen, bloß „output orientierten“ Bildungsbegriff zu hinterfragen und seine eindimensionale Orientierung auf das reibungslose Funktionieren in allen gesellschaftlichen Bezügen. Es könnte wenigstens versucht werden, auf die künftig dominanten digitalen Strukturen der ganzen Gesellschaft vorzubereiten.

Die Aufhebung der Präsenzpflicht in Brandenburg und nun auch in Berlin kann dagegen nur als populistisches Abwägen der Kollateral-Schäden der bisherigen Bildungspolitik beschrieben werden. Was an Covid-Folgen ist hinzunehmen und was kann vermieden werden? Die drei Optionen zwischen denen abgewogen wird: Die Gesundheit der Kinder und der Lehrer; die Gefährdung des Funktionierens der Wirtschaft durch die Reprivatisierung der Verantwortung für die Kinder bei Schließung von Schulen und Kindergärten; die Lernverluste und die sich erneuernde, ungerechte Verteilung der Lebenschancen nach Herkunft. Die Regierenden haben sich entschieden, die Gesundheit von Kindern und Lehrern zu priorisieren. Das ist nachvollziehbar, wird aber nicht konsequent umgesetzt.

Neue Bildungsziele suchen und entwickeln

Diese Woche sind in Berlin Schulferien, aber wenn die Infektionslage sich danach noch für mehrere Monate verschärft, dann müssten irgendwann Schulschließungen folgen. Der Unterricht für den Rest des Schuljahres wäre in diesem Fall digital und mit neuen kollektiven Formaten außerhalb der Schulen zu organisieren. Dazu könnte auch das Aussetzen jeder Form einer Leistungsbewertung am Ende des laufenden Schuljahres gehören. Für alle nicht Abschluss-relevanten Jahrgänge sollte es keine Zeugnisse und auch kein Sitzenbleiben geben. Alle Schüler haben die Pandemie gemeinsam durchlitten. Sie sollten auch gemeinsam ihren Weg heraus in ihre Zukunft weiter gehen dürfen. Hoffentlich schon im nächsten Schuljahr.

Auch die Abschlussprüfungen, MSA und Abitur, sowie die Übergänge in weiterführende Schulen, sind auf das tatsächlich vermittelte Wissen und das Überprüfen individueller Fähigkeiten und Entwicklungschancen jenseits der Schulen zu reduzieren.

Die Schüler von heute müssen für ihre Zukunft in der dann komplett digital organisierten Gesellschaft lernen, ihr virtuelles Leben selbst bestimmt mit Präsenz und Nähe zu verknüpfen. Und mit Menschenfreundlichkeit. Die Gelegenheit für Lehrer und Schüler dieses neue Bildungsziel zu suchen und zu entwickeln, wird ihnen von Bildungspolitikern verweigert, die sich vor jeder Veränderung fürchten. Stattdessen werden die Kinder faktisch einer Durchseuchung mit den Covid-Viren ausgesetzt.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen.

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