Corona und Armut: 4,70 Euro für die Hygiene
Armutslagen haben sich durch Corona verschärft. Nicht nur Hartz-IV-Empfänger:innen, auch Selbstständige sind betroffen, so ein Bericht.
Schneider präsentierte den aktuellen Armutsbericht des Gesamtverbandes unter dem Titel „Armut in der Pandemie“, bezogen auf Mikrozensus-Daten für das Jahr 2020. Die sogenannte Armutsquote erreichte mit 16,1 Prozent laut Bericht einen „neuen Höchststand“. „Noch nie wurde auf der Datenbasis des Mikrozensus eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen als 2020“, so Schneider.
Die „Armutsquote“, in anderen Studien auch „Armutsgefährdungsschwelle“ genannt, bezieht sich auf einen Wert von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Diese Armutsschwelle lag im Jahr 2020 bei einem Nettoeinkommen von monatlich 1.126 Euro, für einen Singlehaushalt gerechnet. Wer darunter liegt, gilt laut Bericht des Paritätischen als „arm“, das ist fast ein Sechstel der Bevölkerung.
Die Armutsquote von 2020 liegt 0,2 Prozentpunkte höher als der Vergleichswert aus dem Vorjahr. Schneider räumte jedoch ein, man müsse den Wert „differenziert“ betrachten. Aus methodischen Gründen sei ein Vergleich des Jahres 2020 mit den Werten früherer Jahre „nur eingeschränkt möglich“.
Höhere Kosten machen arm
Bei Hartz-IV-Empfänger:innen waren es höhere Kosten und der Wegfall von „Unterstützungsangeboten“ wie Tafeln, Schulessen, Sozialkaufhäuser, die das Leben in der Pandemie erschwerten, zählte Schneider auf. „Zugleich sollten die Menschen noch zusätzlich Geld ausgeben für Masken und Desinfektionsmittel“, sagte er. Im Hartz-IV-Regelsatz seien aber nur 4,70 Euro im Monat für Hygieneartikel vorgesehen. Erst in der zweiten Jahreshälfte 2020 wurde ein einmaliger Kinderbonus von 300 Euro pro Kind für Familien im Hartz-IV-Bezug gewährt.
Ulrich Schneider, Paritätischer Gesamtverband
Die Einkommensverlierer:innen seien „vor allem unter den Erwerbstätigen“ und darunter „vor allem unter den Selbstständigen zu suchen“, führte Schneider aus. Unter Selbstständigen zählte die Mikrozensuserhebung 2019 9 Prozent Arme, 2020 war dieser Wert auf 13 Prozent gestiegen. Unter Erwerbstätigen insgesamt, die zumeist sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, gab es 2019 hingegen 8 Prozent Arme und ein Jahr später 8,7 Prozent.
Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wirkten „insbesondere das Kurzarbeitergeld, aber auch das Arbeitslosengeld I als Instrumente der Armutsbekämpfung“, so Verbandschef Schneider, „das große Beben in der Armutsstatistik ist trotz Pandemie ausgeblieben.“ Der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung – rund vier Fünftel – habe in 2020 keine coronabedingten Einkommensverluste erlitten, darunter Rentnerinnen und Rentner, Beamte, Angestellte des öffentlichen Dienstes. 37 Prozent der Selbstständigen und 44 Prozent der Solo-Selbstständigen haben hingegen während der Pandemie Einkommenseinbußen erlebt, so der Bericht.
Eine Sonderauswertung einer aktuellen Konjunkturumfrage des Münchner Ifo-Instituts beschäftigt sich ebenfalls mit den Selbstständigen. Es zeige sich, dass „Soloselbstständige und Kleinstunternehmen die aktuelle Lage in deutlich geringerem Maße positiv einschätzen, als das in der gesamten Wirtschaft der Fall ist“, heißt es im Ifo-Papier. „Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass kleinere Unternehmen am stärksten von der Coronakrise in Mitleidenschaft gezogen wurden.“
Kein Publikum, kein Geld
Besonders Selbstständige in der Gastronomie und im Kultur- und Veranstaltungsbereich leiden unter pandemiebedingtem Auftragsmangel, Besucherrückgängen und der Absage von Veranstaltungen – auch jetzt wieder in der vierten Coronawelle. Darauf weist Andreas Lutz hin, Vorsitzender des Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD).
Die Umsatzrückgänge beträfen auch die aktuelle Vorweihnachtszeit, in denen weitgehende Coronabeschränkungen gelten. „Weihnachtsfeiern fallen weg, Weihnachtsmärkte werden geschlossen, in München haben die Bars dicht gemacht“, schilderte Lutz im Gespräch mit der taz.
Solo-Selbstständige in Not können bis März 2022 mit dem Nachweis erheblicher Umsatzrückgänge die sogenannte Neustarthilfe Plus beantragen, die monatliche Zuschüsse bis zu 1.500 Euro vorsieht.
Schneider sagte, der Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung biete „eine Reihe von Vorhaben“, um Einkommensarmut wirkungsvoll zu bekämpfen. Das Grundproblem sei, dass mit Ausnahme des Mindestlohns sämtliche relevanten Vorhaben unter „Finanzierungsvorbehalt“ stünden. So könne von der versprochenen „Kindergrundsicherung“ nur gesprochen werden, wenn sie die Einkommensarmut von Kindern in Deutschland praktisch beende. Es werde sehr darauf ankommen, wie die angekündigte Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums der Kinder ausfalle, sagte der Verbandschef.
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