Corona bedroht Flüchtlingslager: Aufnehmen statt Abschotten!

Die Evakuierung der Schutzsuchenden von den griechischen Inseln muss sofort beginnen, fordern unsere Gastautor:innen der Seebrücke-Bewegung.

Menschen warten auf Lesbos auf die Verteilung von Lebensmitteln Bild: dpa

Ein Gastbeitrag von SASCHA SCHIESSL und ALINA LYAPINA

In ihrer Ansprache angesichts der Corona-Pandemie hat Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern dass ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen.“

Merkels richtige Aussage muss, wenn sie einen Wert haben will, für alle Menschen gelten, unabhängig von ihrem Pass und ihrem Aufenthaltsstatus und sie muss nicht zuletzt auch gelten für die Schutzsuchenden, die trotz Corona-Pandemie weiterhin unter widrigsten Umständen an den europäischen Außengrenzen festsitzen.

Die Folgen europäischer Abschottungspolitik

Die Zustände in den Lagern auf den griechischen Inseln spitzen sich seit Jahren zu. In den dortigen Camps harren 40.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen aus. Die Zustände in Lagern wie Moria auf Lesbos sind dabei absichtlich menschenunwürdig: Wenn die Zustände noch widriger sind als auf den vorherigen Stationen der Flucht, so das Kalkül von EU und Regierungen, kommen Schutzsuchende gar nicht erst nach Europa. In der Folge herrscht genau dort Rechtlosigkeit, wo Solidarität und Menschlichkeit am dringendsten gebraucht werden. Die Lager an der EU-Außengrenze sind Orte der Abschreckung und der Abschottung. Dass dennoch Menschen versuchen nach Europa zu fliehen, zeigt, wie verzweifelt sie sind und wie ausweglos ihre Lage ist.

Seit Ende Februar zeigte sich vor aller Augen, was die Kritiker*innen des EU-Türkei-Deals stets kritisiert hatten: Die Vereinbarung hebelt nicht nur elementare Rechte von Schutzsuchenden aus, sondern setzt die EU auch in eine massive Abhängigkeit vom türkischen Despoten Recep Tayyip Erdoğan.

Als Erdoğan Schutzsuchende an die griechisch-türkisch Grenze bringen ließ, wies die EU nicht etwa die Erpressungsversuche des türkischen Präsidenten zurück. Vielmehr reagierte die EU mit massiver Gewalt und systematischer Willkür gegenüber Schutzsuchenden. In kürzester Zeit haben Griechenland und die EU grundlegende Menschenrechte und das Recht auf Asyl faktisch abgeschafft. Menschen auf der Flucht werden an der griechisch-türkischen Grenze seither beschossen und illegal in die Türkei zurückgedrängt. Dieser Missbrauch wird auch von Deutschland in Kauf genommen und direkt mit Ausrüstung und Frontex-Personal an der Grenze unterstützt.

Keine Gesundheitsversorgung

Seit Langem ist die Situation in den überfüllten Lagern katastrophal, es fehlt an allem, von medizinischer Hilfe bis zur hygienischen Grundversorgung. Die Corona-Pandemie verschärft diese Lage noch einmal drastisch. Gefangen und isoliert auf den Inseln sind die Menschen der Pandemie schutzlos ausgeliefert. Denn Schutzmaßnahmen, die auf dem europäischen Festland getroffen werden, sind in den Lagern schlicht unmöglich.

Den Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln wie jenen, die an der griechisch-türkischen Grenze gestrandet sind, wird der Zugang zum Gesundheitssystem allein deswegen verweigert, weil sie - von jenseits der Europäischen Union kommend - in der EU Schutz suchen: Schutz vor Krieg, Terror, Verelendung, persönlicher oder gruppenbezogener Verfolgung.

Die Zeit läuft ab: Es braucht jetzt eine Lösung, bevor Coronafälle in den Camps auftreten. Gefragt sind nicht Gewalt und Abschottung, sondern Solidarität und Aufnahme. Die Evakuierung der Schutzsuchenden von den griechischen Inseln muss sofort beginnen.

Deutschland mit größter Aufnahmebereitschaft in Europa

Doch verhindert wird diese Aufnahme bislang von der Bundesregierung. Bereits im Herbst 2019 hatte die Bundesregierung die Bitte der griechischen Regierung um Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge abgelehnt. Anfang März hat sie sich nur nach breitem gesellschaftlichen Druck und zähem Ringen darauf verständigt, eine Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Kinder in Aussicht zu stellen - allerdings eine sehr begrenzte Zahl und das auch nur im Rahmen einer „europäischen Lösung“.

Dass seither Wochen vergangen sind, ohne dass eine Umsetzung wenigstens in Ansätzen erkennbar wäre, zeigt, wie wenig die Bundesregierung daran interessiert ist, die humanitäre Krise zu lösen. Aussitzen, ausweichen, über Bruchteile des Möglichen verhandeln ist ihre Strategie.

Dabei sind in Deutschland sowohl die Bereitschaft als auch die Kapazitäten für die Aufnahme reichlich vorhanden. Laut einer Umfrage befürworten 57 der Befragten die Aufnahme der Schutzsuchenden, die an der Außengrenze gestrandet sind.

Allein in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer sind aktuell 25.000 Plätze frei, mindestens weitere 40.000 Plätze können kurzfristig eingerichtet werden. Auch die Kommunen sind aufnahmebereit. Rund 150 Städte, Landkreise und Gemeinden haben sich in den vergangenen Monaten zu Sicheren Häfen erklärt und ihre Aufnahmebereitschaft bekundet. So haben der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius und sieben Oberbürgermeister*innen Anfang März die Bundesregierung mit einem gemeinsamen Appell zum sofortigen Handeln und zur Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge aus griechischen Aufnahmelagern aufgerufen. Viele Kommunen haben darüber hinaus gemeldet, dass sie sofort Kapazitäten bereitstellen könnten, etwa für die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge.

Lösungen

Betrachtet man die Kapazitäten, wird klar: Alle Schutzsuchenden, die auf den griechischen Inseln gestrandet sind, könnten sofort in Deutschland untergebracht werden. Die gesellschaftliche Bereitschaft dafür schlägt sich in den Aufnahmebekundungen der Kommunen und Länder nieder. Das einzige, was fehlt, ist eine Regierung, die nicht Grenzen, sondern alle Menschen schützt und die Aufnahme endlich umsetzt.

Das Coronavirus kennt weder Grenzen noch Nationalitäten. Es war daher eine richtige Entscheidung, schwer erkrankte Patient*innen aus dem Elsass für Intensivbehandlung nach Deutschland zu bringen. In gleicher Weise darf Europa die Menschen an seinen Außengrenzen nicht länger allein lassen. Wo es um Menschenleben geht, spielt der Pass keine Rolle.

In einem ersten Schritt muss die deutsche Regierung sofort die Menschen aus den Lagern auf den griechischen Inseln evakuieren. Und mit rund 150 Sicheren Häfen gibt es in ganz Deutschland aufnahmebereite Städte, Landkreise und Gemeinden, die in Zeiten der Corona-Epidemie Menschen auf der Flucht den Zugang zu medizinischer Versorgung und ein neues Zuhause bieten können.

Zugleich muss die EU den Zugang zu Schutz und Asylverfahren in der Europäischen Union wiederherstellen. Die weltweite Herausforderung durch das Coronavirus zeigt ganz klar: rücksichtsloser Wettbewerb und rassistische Abschottung führen in eine Sackgasse. Mehr denn je müssen Gesellschaften solidarisch handeln und gemeinsam jene unterstützen, die von dieser Katastrophe besonders schwer betroffen sind.

In Deutschland und ganz Europa muss gelten: #LeaveNoOneBehind

Sascha Schießl ist Historiker und Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen. Er gehört zum bundesweiten Koordinationskreis der Seebrücke-Bewegung.

Alina Lyapina ist Politikwissenschaftlerin und politische Aktivistin. Sie gehört ebenso zum bundesweiten Koordinationskreis der Seebrücke-Bewegung.

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[Hinweis: Die Redaktion der taz macht sich Meinungen und Aussagen von Gastautor:innen der taz Bewegung nicht notwendigerweise zu eigen.]