Contergan-Geschädigte: Hersteller will nicht mehr zahlen
Grünenthal lehnt Forderungen der Opfer des Arnzeimittelskandals nach weiteren Entschädigungen ab - und nennt als Grund die "stark emotionale" Atmosphäre durch den ARD-Film "Contergan".
AACHEN/MÜNCHEN/BERLIN ap/dpa/taz Das Aachener Pharmaunternehmen Grünenthal hat bekräftigt, dass es nicht erneut Geld an contergangeschädigte Menschen zahlen will. Dies ließ die Firma am Mittwochabend gegenüber dem ARD-Talkmagazin "Hart aber fair" verlauten. Die Firma verursachte den größten Arzneimittelskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, als es 1957 Contergan auf den Markt brachte. Das Schlafmittel war rezeptfrei erhältlich und enthielt den Wirkstoff Thalidomid. Es versprach werdenden Müttern eine ruhige Nacht. Die Einnahme während der Schwangerschaft sogte jedoch weltweit bei 10.000 Neugeborenen für Missbildungen. Die meisten Contergan-Opfer - von einst 5.000 Betroffenen in Deutschland leben noch etwa 2.700 - kamen ohne Arme oder Beine zur Welt.
1961 nahm Grünenthal Contergan wieder vom Markt, obwohl es schon ab 1959 zahlreiche Hinweise auf Missbildungen gegeben hatte. Ein Mammut-Strafprozess gegen acht leitende Angestellte von Grünenthal und gegen Inhaber Hermann Wirtz wurde im Dezember 1970 wegen geringer Schuld eingestellt. In der Folge verpflichtete sich das Unternehmen, 110 Millionen Mark für die Opfer in eine Stiftung einzuzahlen, in die auch der Bund 100 Millionen Mark einbrachte. Seit 1997 ist das Geld aus der Conterganstiftung jedoch aufgebraucht. Derzeit bestreitet allein der Bund die Rentenzahlungen in unterschiedlicher Höhe für die noch lebenden Geschädigten. Der monatliche Maximalbetrag beläuft sich auf 545 Euro. Die Summe wird von den Betroffenen-Verbänden als unzureichend kritisiert.
Grünenthal nannte als Grund für seine Position die "stark emotionale Atmosphäre" durch den zweiteiligen ARD-Fernsehfilm "Contergan", dessen erster Teil am Mittwoch ausgetrahlt wurde und dabei auf außerordentlich hohes Zuschauerinteresse gestoßen war. Insgesamt etwa 7,27 Millionen Zuschauer sahen den Film mit dem Titel "Eine einzige Tablette", wie die ARD am Donnerstag mitteilte. Der Marktanteil lag demnach bei 22,2 Prozent.
Der Film konnte lange nicht ausgestrahlt werden, da Grünenthal und ein Anwalt, an dessen Lebensgeschichte sich der Film orientiert, dies mit einstweiligen Verfügungen zwischenzeitlich blockiert haten. Sie hatten zahlreiche Stellen des Drehbuchs kritisiert und von einer Verdrehung historischer Tatsachen gesprochen.
Der Bundesverband Contergangeschädigter sieht sich dagegen dank der Ausstrahlung des ARD-Fernsehfilms nun in einer besseren Ausgangsposition bei seinen Forderungen nach weiteren Entschädigungszahlungen von Grünenthal. "Der Film kann eine Motivation für Grünenthal sein, den Dialog mit den Betroffenen aufzunehmen", sagte die Vorsitzende Margit Hudelmaier am Mittoch. Er sensibilisiere die Öffentlichkeit für ihre Situation und schaffe mehr Aufmerksamkeit, fügte die 47-Jährige hinzu, die selbst Geschädigte ist."
Unterdessen hat der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller Grünenthal aufgefordert, erneute Zahlungen an die Contergan-Geschädigten zu erwägen. Die rund 100 Millionen Mark, die bisher an die Opfer gezahlt wurden, seien "zu wenig", sagte Bernd Eberwein, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller am Mittwochabend in der ARD-Talksendung "Hart aber fair", die nach "Contergan" gesendet wurde und immerhin noch 4,73 Millionen Zuschauer hatte. Über weitere Zahlungen "müsste man möglicherweise mal nachdenken".
Die Grünenthal GmbH - seit 1977 unter diesem neuen Namen in Aachen ansässig - macht heute einen Umsatz von 813 Millionen Euro (2006). In mehr als 100 Staaten werden Grünenthal-Produkte verkauft. Das Unternehmen hat sich in den vergangenen Jahren auf die Bereiche Schmerztherapie und hormonhaltige Produkte spezialisiert. Das Unternehmen beschäftigt weltweit rund 4.800 Mitarbeiter (2005) und wird vom Enkel des Firmengründers, Sebastian Wirtz, geführt.
Der zweite Teil des ARD-Fernsehfilms "Contergan" mit dem Titel "Der Prozess" wird am Donnerstag ausgestrahlt.
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