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Archiv-Artikel

„Cola ging nicht. Also Buttermilch!“

Krautrock? Falsch. New- Age-Musik? Nonsens. Seit fast vierzig Jahren ist Edgar Froese der Kopf von Tangerine Dream. Am Donnerstag spielen die Elektronik-Pioniere auf der Popkomm in Berlin. Ein Gespräch über epische Klänge, starke Frauen und die Totheit des alten Westberlin

INTERVIEW VON HARALD FRICKE

Sie waren ein Monolith im Deutschrock der Siebzigerjahre. Wenn Dethard Fissen in seiner Wunschsendung auf NDR 2 zwischen Wolf Biermann und Udo Lindenberg ein Stück von Tangerine Dream spielte, wurden die Minuten lang und länger. Ungewöhnlichere Musik gab es im Radio kaum, schon Titel wie „Sunrise in the third system“ auf der LP „Alpha Centauri“ (1971) machten klar, dass hier eine Band von ganz woanders herkam als der Rest. Tangerine Dream, das war akustische Science Fiction, ein Trip durch die magischen Kanäle der Elektronik. Fahle synthetische Chöre aus dem Mellotron, ein Dämonenritt auf Orgeln und schrankwandgroßen Moog-Keyboards.

Ausgetüftelt wurden die Sounds in Berlin, die Adresse von Tangerine-Dream-Gründer Edgar Froese stand 1970 auf der ersten Platte „Electronic Meditation“: Suarezstraße, mitten in der Mitte von Charlottenburg. Echtes, altes Westberlin. Noch heute klingt bei dem 1944 in Tilsit geborenen Edgar Froese dieses alte Berlin im Gespräch durch, auch wenn er mittlerweile in der Nähe von Wien lebt. Vielleicht liegt es an der Mischung aus Wortwitz und preußischer Strenge: Wie Froese im einen Moment über Zeit als Konstante in der Musik doziert und gleich danach einen Seitenhieb auf Drei-Minuten-Popsongs platziert.

Nur einmal wird er unwirsch. Wenn man wissen wolle, warum Tangerine Dream in den Neunzigerjahren mit Remixen auf den Zug der Techno-Bewegung aufgesprungen sind, dann solle man doch bitte seinen Sohn Jerome fragen, „das war sein Steckenpferd“. Tatsächlich funktionieren Tangerine Dream seit den Neunzigerjahren als Familienprojekt aus Vater, Sohn und wechselnden Begleitmusikern und -musikerinnen. Richtig unzufrieden kann Froese senior mit dem Ergebnis trotzdem nicht gewesen sein – immerhin gibt es reihenweise DJs und Techno-Produzenten, die Tangerine Dream zu ihren großen Einflüssen zählen. Da stört es auch nicht, dass die Band heute nach moderner Klassik klingt und ihre Konzerte eher an digitale Symphonien erinnern als an die mäandernden Trance-Sessions der frühen Tage.

taz.mag: Herr Froese, Sie haben Tangerine Dream 1967 gegründet. Wer waren damals Ihre Helden – die Beatles oder die Stones?

Edgar Froese: Das waren wohl die Stones. Die Entscheidung war damals eher eine soziale als eine musikalische. Nur habe ich aus meiner Einstellung ohnehin nie eine Religion gemacht.

Der Bandname geht auf die Textstelle „Tangerine Flowers“ in dem Beatles-Song „Lucy In The Sky With Diamonds“ zurück. War der Text von John Lennon so eine Art psychedelische Urszene?

Ach, das muss man in einem anderen Rahmen sehen. Was heute über diese Zeit gesagt wird, stammt meist von Leuten, die ihre Sicht der Dinge in etwas hineininterpretieren, was sie selbst gar nicht erlebt haben. Die andere Fakultät, die diese Dinge erlebt hat und dann retrospektiv beschreibt, ist aufgrund der romantisierenden Sicht auch nicht nah dran an den damaligen Geschehnissen. Also eigentlich stimmt alles kaum.

Sondern?

Die Generation, die zwischen 1945 und 1965 heranwuchs, hatte praktisch bloß eins gemeinsam: Sie war autoritär erzogen und irre verklemmt. Das hatte man zu leben, schon wegen der Abhängigkeit vom Elternhaus. Nun kam auf einmal eine Zeit, die hat das mit einem Knüppelschlag, über Nacht sozusagen, kaputtgemacht. Auf einmal war der Gedanke da: Ey, du kannst es doch, also mach’s doch einfach. Sicher gab es auch Brüche und Missverständnisse. Um mal eins zu benennen: Man sollte seine Freiheit nie auf Kosten der anderen ausleben, das haben die meisten erst viel später verstanden. Grundsätzlich war Befreiung der Grundtenor, der sich in der Musik widerspiegelte und auch in den ganzen Drogengeschichten. Ob das nun gut oder schlecht war, sei dahingestellt, der Zeitgeist war einfach so.

Sie sind damals als Kunststudent vom Happening zur Musik übergewechselt. Das war nicht wirklich Rock 'n' Roll.

Es war beides. Nehmen Sie zum Vergleich Velvet Underground, die von Andy Warhol gesponsert und stark beeinflusst wurden. Die haben ihre Musik ganz in den Freiraum der Kunst eingebunden, sie haben praktisch Kunst klingen lassen, als Lebensstil einer New Yorker Community. Im Grunde war es eine Zeit der Symbiosen, ich nenne das immer den mentalen Komponentenkleber, bei dem innerhalb dieser Generation stets zwei Dinge zusammenkamen, ob das nun Politik und Musik war oder Kunst und Musik. Entscheidend dabei war, dass die Musik in all diesen Prozessen eine vorherrschende Rolle spielte. Und sei es bloß als Lifestyle, so wie selbst Politiker plötzlich einen längeren Haarschnitt hatten – auch wenn ihre Kommentare meist die gleichen blieben. So ging das quer durch die gesamten Gesellschaftsstrukturen. Es gab ein hohes Maß an Spontaneität, das man übrigens heute durchaus vermissen kann.

Wie muss man sich Ihre ersten Auftritte vorstellen? Als Performance?

Wir waren auf der Suche nach einer Schnittstelle zwischen Musik und Kunst. Das hatte gar nicht so viel mit der Berliner Szene zu tun, das war eher an Düsseldorf orientiert, an den ersten Video-Experimenten, die dort stattfanden, vor allem auch an dem, was Joseph Beuys machte. Was eben neu war und revolutionär für die Zeit. Ob das nun wertvoll war und alle Zeiten überdauern würde wie etwa eine Mozart-Komposition, danach hat damals keiner gefragt. Wichtig war nur, dass man den Mut hatte, die Tasse auf den Kopf zu stellen und dann aus der Untertasse den Kaffee zu trinken – anstatt wie vorher aus den normalen Be- oder Verhältnissen. Diese Freiheit hat man sich genommen, und das hat viel Spaß gemacht.

Auf Ihrem Debüt „Electronic Meditation“ von 1970 konnte man noch eine klassische Rockbandbesetzung mit Schlagzeug, Bass, Orgel und Gitarre hören. Wie wurde daraus der berühmte und berüchtigte Elektroniksound von Tangerine Dream?

Wir haben nie wirklich elektronische Musik gemacht. Wir haben nur Instrumente benutzt, mit denen man über die klanglichen Bereiche der konventionellen Instrumentarien hinausgehen konnte. Die eigentlich elektronische Musik, wie sie von Karlheinz Stockhausen oder Iannis Xenakis komponiert wurde, das war ja echte experimentelle Klanganalyse und Klangsynthese. Das kannten wir natürlich alles und haben entsprechend auch das innovative Umgehen mit Klang gelernt. Aber dann haben wir uns nicht hingesetzt, um aus der Sicht des Elfenbeinturms nach unten das Volk damit zu belästigen. Wir kamen aus der Rockmusik und haben schnell gemerkt, dass man in Deutschland nicht mit dem konkurrieren konnte, was auf diesem Gebiet in England oder den USA passierte. Also musste irgendetwas anderes her, man brauchte ja in Amerika nicht mit der Kiste Coca-Cola ankommen, da war schon eher Buttermilch gefragt.

Die Buttermilch bei Tangerine Dream bestand aus endlosen Improvisationen auf meterhohen Synthesizern, für die man als Zuschauer viel Zeit mitbringen musste. War das ein Alleinstellungsmerkmal?

Zeit hat immer eine Rolle gespielt, davon kann man keine Musik trennen. Andererseits wird Zeit ohnehin nur nach der seriellen Komponente der Erfahrung erlebt. Die Abfolge von Ereignissen schafft für uns einen Zeitraum. Je schneller die Dinge aufeinander folgen, umso kürzer wird das Zeitempfinden.

Und das hat Einfluss auf die Musik?

Improvisation ist so lange möglich, wie die Handwerkszeuge den variablen Umgang mit Zeit zulassen. Ich kann mit einer Gitarre, einer Geige oder einem Klavier immer improvisieren, je nach meinen Fähigkeiten und meiner mentalen Bereitschaft. Sobald ich Geräte zur mechanischen Wiederholung von Klang benutze oder eben eine Software am Computer, hebt sich das alles auf. Dann muss ich entscheiden, ob ich etwas speichere und reproduziere, ebenso gut kann ich Klänge oder eine Kombination aus Tönen um 180 Grad drehen. Das sind Entscheidungen, die sich immens auf die Improvisation auswirken.

Warum war die Bereitschaft, sich auf 25 Minuten lange Improvisationsstücke einzulassen, gerade beim Publikum der Jahre 1972/73 so ungeheuer groß?

Man kann das ein bisschen mit der Literatur und dem Verhältnis zwischen Short Story und Roman vergleichen. Um etwas in epischer Breite zu erzählen, reichen eben fünf, sechs Seiten nicht aus. Umgekehrt kann man auch sagen: Wenn du etwas auf fünf, sechs Seiten nicht erzählen kannst, dann nützen auch 300 Seiten nichts, also vergiss es lieber. Trotzdem kam in dieser Zeit die Vorstellung auf, dass man jemanden in der Musik auf eine Reise in die eigenen Erlebniswelten mitnehmen wollte. Man wollte nicht in den Zug des Drei-Minuten-Stücks einsteigen – und bevor man im Bordrestaurant auch nur einen Kaffee bestellt hatte, musste man schon wieder aussteigen. Das war auch ein großer Unterschied zu den Fünfziger- und Sechzigerjahren, wo im Grunde nur der emotionale Klingelton gewünscht war. Da reichten ja ein Petticoat, eine Cola und Bebopalula.

Davon wollten Sie sich absetzen?

Anfang der Siebzigerjahre war der Punkt erreicht, wo man in der Musik Züge bestieg, um nicht nur einen Kaffee zu bestellen, sondern man wollte am liebsten gleich in dem Zug auch noch übernachten. Die Fahrten wurden länger und damit auch die Bereitschaft des Publikums, bei solchen Fahrten mitzumachen. Es war die Entdeckung eines Mikrokosmos in der Musik, wobei man jetzt lange darüber philosophieren könnte, ob das nun mit dieser oder jener Droge zu tun hatte.

Und? Hatte es?

Natürlich spielte das eine Rolle, so wie jede Droge ihre Musik hat und umgekehrt. 1924 in Berlin waren Koks und Charleston ein und dieselbe Sache, die hippieske Periode hatte ihre Marihuana-Kiste, und in der heutigen Musik mit ihrer unglaublichen Geschwindigkeit kommen vielleicht Speed, Crack und all die anderen Drogen auf einmal zusammen.

Heute gelten Tangerine Dream als Paten von Techno. Aber die Songästhetik hat sich ziemlich verändert: Am Computer kann man in wenigen Minuten einen Track zusammenschrauben. Kommt Ihnen der frühere Ansatz da nicht leicht saurierhaft vor?

Das ist für mich überhaupt kein Bewertungskriterium. Ich habe Leute gesehen, die aufgrund ihrer finanziellen Ausstattung alles im Studio hatten, was nur verfügbar ist, und die trotzdem nichts als Langeweile produziert haben. Darauf kommt es auch nicht an. Meine Philosophie war immer und ist auch heute noch: Was ich auf dem Kamm blasen kann, das kann ich auch in einer Symphonie ausdrücken.

Sie blasen aber doch nicht auf Kämmen, sondern Sie benutzen für Tangerine Dream bestimmt die allerneueste Software?

Es kommt nicht auf das Handwerkszeug an, letztlich bist du die Musik, weil Musik ein Seinszustand ist. So gesehen ist das Instrumentarium nur mittelbar eine Fortsetzung dessen, was ohnehin schon in dir existieren muss. Natürlich ist es ab einem gewissen Punkt sehr hilfreich, wenn man Arbeitsprozesse in einer halben oder viertel Stunde abwickeln kann, für die man früher vielleicht drei, vier Tage gebraucht hat. Nur die Qualität oder das, was man hört, was dann andere Menschen bewegt, all das hängt nicht davon ab, wie lange man daran gearbeitet hat oder mit welchen Mitteln man das angefertigt hat. Sondern ob eine hohe Identifikationsebene existiert mit dem Leben, das in der Sache steckt.

Zu Beginn der 70er-Jahre machte eine Band wie Kraftwerk sehr bildmächtige Musik. Zum Beispiel der Minimalismus von „Autobahn“, zu dem Zeilen wie „die Fahrbahn ist ein graues Band/weiße Streifen, grüner Rand“ hervorragend passen. Was war bei Tangerine Dream das Programm?

Jede Musik ist Programmmusik, das gilt auch für eine Beethoven-Sonate. Wer durch den Wiener Wald geht, und danach seine Eindrücke in Noten aufschreibt, der programmiert bereits Töne, die sich auf eine bestimmte Umgebung beziehen. Darin unterscheidet sich Klassik nicht von Rock ’n’ Roll bis hin zur Love Parade, wo drei Stunden lang 160 Beats per Minute gefragt sind. Das sind alles Erlebnisräume. Man muss sich Kraftwerk wie ein Baustellenzeichen vorstellen: Da sind auf einem Schild formal sehr reduzierte Hinweise – rote Umrandung, schwarzes figürliches Abbild auf weißem Hintergrund, Ende. Das kann ich selbst dann noch wahrnehmen, wenn ich mit 120 Kilometern vorbeifahre. Vorsicht, Baustelle! Jetzt stellen Sie sich das gleiche Schild mit einer Bergwelt vor, die ein Kunstmaler angefertigt hat, vorne mit einem Gartenzaun und Wiese, auf der ein Bauer mit einem Arbeitsgerät steht. Alles naturalistisch einwandfrei gemacht, um auf das Gleiche hinzuweisen. Das wäre doch völlig unangemessen! Man würde an diesem Schild vorbeifahren und noch nicht einmal wissen, ob da nun ein Elch gestanden hat oder ein Verkehrszeichen. Das finde ich am Konzept von Kraftwerk so genial: dass sie sich auf das Allerwesentlichste beschränkt und darüber Verständlichkeit, womöglich auch Identifikation hergestellt haben.

In Ihrem eigenen Berliner Umfeld stand bei Bands wie Ton Steine Scherben die Agitation damals hoch im Kurs. Warum haben Sie selbst auf politische Statements verzichtet und instrumentale Musik gespielt?

Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Nehmen wir an, jemand hat Ihnen eine Schnittwunde zugefügt. Wie reagieren Sie? Sie können hingehen und dem anderen auch eine Verletzung zufügen. Oder Sie erkennen das Notwendige für den Moment, holen sich erst mal ein Pflaster und verbinden sich selbst. Mit anderen Worten: Es ist entscheidend, inwieweit man den eigenen Erkenntnisprozess in Gang setzt, eine Standortbestimmung vornimmt und sich fragt, was passiert da eigentlich – und dann erst sucht man nach einer Möglichkeit, wie man reagiert. Ende der Sechzigerjahre war es in politischen Dingen meistens so, dass man erst mal reagiert hat, vor allem emotional. Und hinterher hat man darüber nachgedacht, wie effektiv das Ganze war. Wenn es bei Ton Steine Scherben hieß „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, dann implizierte das doch nichts anderes, als dass am Ende beide Seiten kaputt sind. Das hatte keine Logik, und durchführen ließ es sich auch nicht, zumindest nicht mit der erhofften Konsequenz.

Als sich in Deutschland die Fronten verhärteten, kam für Sie der Durchbruch in England. War man im Ausland offener für die introvertierten Sounds von Tangerine Dream?

In England war man vielleicht nicht offener, aber dort war die Situation der Musik von Beginn an anders. Auch da nur ein Beispiel, das noch heute Gültigkeit hat: Wenn in England die Musikindustrie hinter der Autoindustrie die entscheidende ökonomische Kraft darstellt, dann merkt man das durch alle Gesellschaftsschichten. Ich meine das ganz realistisch, sozialproduktiv. Das hat es in Deutschland nie geben, hier war Musik etwas, was am Rande gerade so geduldet wurde. Aber als wirtschaftlicher Faktor? Da wurde Musik mit der Zange angefasst und verkauft, wenn es denn sein musste.

Obwohl Krautrock international ein ziemlich prominentes Aushängeschild für Musik aus Deutschland war?

Kraut hatte nie primär etwas mit Musik zu tun, der Begriff wurde ja bereits 1945 von alliierten Militärs eingeführt. Ich mag überhaupt keine Label, ich mag auch den Begriff „New Age“ nicht, TD macht TD-Musik. Aus, Feierabend. Nur muss man auch verstehen, dass der Mensch in nicht beschriftete Schubladen ungern hineingreift, weil er nicht weiß, was ihn erwartet. Das gilt erst recht, wenn er dafür, dass er hineingreifen darf, auch noch bezahlen muss. Jede kaufmännische Überlegung wird davon geleitet, wie gut eine Beschreibung mit dem Produkt übereinstimmt, so dass Käufer auch an diese Schublade gehen. Dann ist mir das Label letztlich egal.

Würde Ihnen denn diese Beschreibung zusagen: Tangerine Dream machen moderne Festmusik, die gut zu Großspektakeln passt wie etwa der 750-Jahr-Feier in Berlin 1987?

Jaja, auch, schon. Obwohl ich sagen muss, dass uns die Stadt Berlin nicht besonders gut behandelt hat. Es geht oft einfach darum, dass der Mensch einen Anlass braucht, selbst wenn er irgendwo mit anderen gemeinsam ein Konzert erleben will. Das sind dann Jubiläen oder Events, die von vielen offenbar eher wahrgenommen werden, als wenn einfach irgendein Tag wäre und das Wetter schön. Auch Konzerte haben meistens mehr Erfolg, wenn es eine offizielle Signatur gibt.

Oder einen symbolhaften Anlass. Sie waren 1980 die erste Westband, die in Ostberlins Palast der Republik gespielt haben. Wie kam es zu diesem Auftritt?

Wir haben uns nie für oder gegen ein politisches System entschieden, sondern praktisch gehandelt. Wer im Gefängnis sitzt, dem muss man die Nahrung bringen, weil er schlecht selber nach draußen gehen und für sich einkaufen kann. Nach diesem Prinzip haben wir unsere ersten Konzerte in der DDR gemacht. Das sollte man jetzt aber auch nicht als humanistischen Feldzug missverstehen. Eine Künstleragentur war auf uns aufmerksam geworden, hat für uns eine Tour organisiert und als Höhepunkt fand dann das Konzert im Palast der Republik statt. Denn die musikalische Entwicklung in diesem Land war ja immer gesamtdeutsch, auch wenn wir uns nicht die Lederjacke angezogen haben und mit Honecker in den Zug nach Pankow eingestiegen sind.

Waren Tangerine Dream Mitte der 70er-Jahre nicht überhaupt der Inbegriff von Westberlin?

Man darf nur nicht vergessen, wie dieses Westberlin seinerzeit aussah, dass es ein gehätscheltes Kind von vier Nationen war. Wenn Sie allein bedenken, was der Bund an Geldern in die Stadt gesteckt hat, das war ja gigantisch. Das hatte auch damit zu tun, dass Berlin der östlichste Punkt war, von dem aus man in alle Räume der damals existierenden Staaten des Ostblocks hineinwirken konnte. Die Lebensnotwendigkeit der Stadt beruhte jedenfalls nicht allein darin, die 2,3 oder 2,4 Millionen Menschen in Westberlin möglichst gut über die Runden zu bringen.

Was hat Sie dann all die Jahre in Berlin gehalten?

Der Exotenstatus der Stadt hatte zur Folge, dass sich hier auch einige Dinge entwickeln konnten, die woanders gar nicht möglich waren. Für mich war Berlin immer beides, zu allen Zeiten: Der Humus, der alte Schrott, auf dessen historischem Dünger ein paar Pflanzen besonders gut wuchsen, während andere sofort eingingen, die konnten sich hier überhaupt nicht entwickeln, auch mit viel Sonnenlicht nicht. Andere wiederum hatten die Chance, besonders kräftig zu wachsen und machten dann das aus, was Berlin im Ausland auszeichnete: als Metropole der zweiten Realität. Das war der Mythos, Berlin wurde immer mythifiziert.

Für ihre Musik haben Tangerine Dream stets avancierteste Technik benutzt. Aber da war immer auch etwas Dunkles, Gebrochenes in den Kompositionen, was eher zu den Ruinen der Romantik geführt hat als in Richtung Sci-Fi-Futurismus. Ist diese Haltung auch Ihren Erfahrungen als Berliner geschuldet?

Man darf eins nicht vergessen: So wie der Mensch, den man liebt, auch Nachteile hat, so besitzen auch Orte eine Ausstrahlung und Faszination, die man sich mit negativen Erlebnissen erkaufen muss. Berlin war doch damals eben auch trist und abgeschottet. Wenn man an die grauen Novembertage denkt, an denen alles wie tot zu sein schien, das war ein einziges Altenheim hier. Die paar geflüchteten Youngsters, die dem Bund entgehen wollten, oder die paar Industriellen, die wegen der Investitionszulage ihre Zelte hier aufschlugen, oder besser gesagt: die alten Zelte noch nicht abbrachen.

Andere sind trotzdem hergekommen – wie Iggy Pop oder David Bowie. Also gab es doch Austausch?

Es ist doch immer so: Die Papageien leben am liebsten im Urwald, und das Exotische zieht natürlich auch das Exotische an. Für Künstler, die prinzipiell andere Realitätsebenen bevorzugen als der normale Bürger, bot Berlin ja in der Tat etwas, wo sie sich miteinander treffen konnten. Aber das war abseits der Boulevards, das fand in Kellern und Hinterhöfen statt, und nun wirklich nicht auf den Pfaden, für die vom Senat geworben wurde.

Dann gab es 1982 auch in Deutschland den ersten Verkaufserfolg. Plötzlich stand Ihre Musik für den Tatort „Das Mädchen auf der Treppe“, in dem Götz George als Kommissar Schimanski auftrat, in den Charts. Sie haben das mal als den „Sündenfall“ von Tangerine Dream bezeichnet.

Ach, das kann einem völlig egal sein. Wir haben damals versucht, für eine Figur – die wir übrigens auch mochten, bei alledem, was sonst so im Fernsehen lief – einen passenden Soundtrack zu liefern. Und Götz George war ja schon etwas Besonderes für deutsche Verhältnisse. Dann sagt man, okay, das machen wir.

Sie haben auch für „Kamikaze 1989“ von Wolf Gremm die Musik geschrieben. Und Sie haben 1983 in der Frankfurter Alten Oper eine Hommage an den verstorbenen Rainer Werner Fassbinder gespielt. Lag der neue deutsche Autorenfilm auf Ihrer Linie?

Klar, Fassbinder war neben Werner Herzog, Wim Wenders und Volker Schlöndorff überhaupt als Filmemacher faszinierend. Seine Filme haben es selbst bis an den Sunset Boulevard in L.A. geschafft, zumindest in die Off-Kinos. Fassbinder hätte eine Mega-Karriere in Hollywood machen können, wenn er angepasster gewesen wäre. War er aber nicht. Und auch ein Wenders wird Ihnen genau beschreiben können, warum er mit seinem Anspruch an Bildgeschichten in Hollywood nie wie ein Roland Emmerich aufsteigen konnte. Aber Fassbinder – wer sonst konnte schon in drei Wochen für weniger Geld einen Film drehen, als andere Leute brauchen, um die Beleuchtung aufzustellen? Und wer außer ihm hat aus zweitklassigen Ku’dammschauspielern wirkliche Heroen gemacht?

Apropos Heldengeschichten. Platten von Tangerine Dream hatten auch ohne Aufträge aus der Filmwirtschaft stets Titel wie „Phaedra“, „Rubycon“ oder „Purgatorio“. Und letztes Jahr haben Sie eine CD über Jeanne D'Arc veröffentlicht. Wie kommen Sie zu Ihren Themen?

Ich bin ein Fan von starken Frauen gewesen, schon immer. Frauen, die sich selbst verwirklichen und ihre Ideen durchsetzen, vielleicht sogar etwas rücksichtslos gegenüber der Gesellschaft, das war schon immer mein Faible. Und da es nicht so opportun war, einen Soundtrack über Alice Schwarzer zu schreiben, die ja von heute aus als Protagonistin einer solchen starken Frauenbewegung dasteht, haben wir lieber Jeanne d'Arc genommen. So einfach ist das.

HARALD FRICKE, 42, ist Redakteur im Kultur-Ressort der taz