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Cochlea-Prothese für GehörloseBeatrix will hören

Beatrix Hertel ist fast taub. Sie lässt sich ein Cochlea-Implantat, eine Innenohrprothese, setzen. Doch das reicht nicht: Nun muss sie üben.

„Alles ist ungewohnt laut.“ sagt Beatrix Hertel - die Autos, die Menschen, sogar die Vögel. Bild: dpa

Das Gerät, das Beatrix Hertels Welt verändert, ist klein. Die 26-Jährige sitzt in der HNO-Station der Berliner Universitätsklinik, vor ihr der Sprachprozessor, den sie sich wie ein Hörgerät hinter das Ohr klemmen soll. Hertel presst die Lippen aufeinander. Neonröhren an der Decke sirren. Der Audiologe Stefan Gräbel schaut sie an. „Du darfst heute keine Wunder erwarten“, sagt er. „Alles klar“, antwortet sie.

Vier Wochen zuvor war der 26-Jährigen ein sogenanntes Cochlea-Implantat, eine Innenohrprothese, eine Mensch/Maschine-Schnittstelle, eingesetzt worden. Damit wird Beatrix Hertel gleich zum ersten Mal wieder hören. Das hofft sie zumindest.

„Vor zehn Jahren konnte ich noch Vogelgezwitscher erahnen“, sagt sie. Heute lege sich der Stadtlärm wie ein Brei aus dumpfen Geräuschen über sie, den sie trotz der Hörgeräte nicht mehr entziffern kann. Ihr Gehör wird schlechter. Beim Musikhören nimmt sie nur den Bass wahr. Deshalb tanzt sie am liebsten auf Elektropartys, wenn der Rhythmus im Körper dröhnt und ihre braunen Haare im Takt wippen.

In der Patientenakte steht: Beatrix hat eine Hörschwelle von 100 Dezibel im Frequenzbereich 500 Hertz bis 8 Kilohertz – erst ab etwa der Lautstärke eines vorbeirasenden Feuerwehrwagens mit Martinshorn hört sie überhaupt etwas.

Ob Beatrix Hertel schwerhörig zur Welt kam, ist unklar. Ihre Mutter merkte jedoch schnell, dass ihre Tochter nicht reagierte, wenn der Staubsauger brummte, Töpfe klapperten, Türen zugeschlagen wurden.

Gebrochene Worte

Ein Jahr lang hatte Hertel überlegt, ob sie sich operieren lassen soll. Warum auch?, dachte sie zunächst. Sie mag ihren Arbeitsplatz im Verpackungslager, kann sich unterhalten, sagt „wa“ und „icke“ wie andere Berliner und Berlinerinnen. Nur dass sie beim Sprechen manchmal Konsonanten verwischt, ein C wird ein Sch, aus T ein D, und dass sie eigentlich nicht hört, sondern von den Lippen abliest. Wer sie sehr aufmerksam beobachtet, merkt das.

Aber Lippen sehen, wie es korrekt heißt, ist eine unsichere Art der Verständigung, etwa 30 Prozent des Gesagten ist auf diese Weise zu verstehen. Ist der Kontext klar, reicht das. Sonst jedoch nicht. Auch nervt es Hertel, dass sie ihre Mutter immer wieder bitten muss, für sie zu telefonieren und Termine zu vereinbaren. Behindernd sei zudem, wenn sie ihre Kollegen ständig fragen muss: „Was hast du gesagt?“

Deshalb hat sie sich für das Implantat entschieden, das die Funktion ihres Innenohrs übernehmen soll. Im gesunden Ohr wandeln die inneren Haarzellen den Schall in Reize um, die von den Nervenfasern ans Gehirn weitergeleitet werden. Bei Schwerhörigen wie Beatrix Hertel sind die Haarzellen zum Teil ausgefallen oder haben sich nie gebildet. Doch ihr Hörnerv ist intakt – das ist die Voraussetzung, damit ein Implantat gesetzt werden kann. Die Elektroden des Implantats stimulieren dann den Hörnerv.

Rund 30.000 Menschen in Deutschland tragen ein solches Implantat, schätzt die Cochlear-Implant-Gesellschaft. Die Krankenkassen zahlen meist die Operation und das Gerät, die so viel wie ein Kleinwagen kosten.

Unter Gehörlosen umstritten

Einige Freunde haben Hertel von der Operation abgeraten. Das Cochlea-Implantat ist unter Gehörlosen und Schwerhörigen umstritten. Für manche ist das Gerät ein Indiz, dass, wer ohne Gehör ist, kein vollwertiger Mensch sei. Sie befürchten, dass die Gebärdensprache, eine Sprache mit einer eigenen Kultur und verschiedenen Dialekten, an Ansehen verliert, je mehr Menschen ein Cochlea-Implantat nutzen.

Außerdem kennt Beatrix Schwerhörige, die den Sprachprozessor nicht mehr tragen – zu laut und anstrengend fanden sie die sich auftürmende Geräuschkulisse des Alltags. Manche Hörende wiederum verstehen nicht, warum Hertel sich nicht früher für die Operation entschieden hat; warum sie so lange in einer, aus ihrer Sicht, stillen Welt leben wollte.

Beatrix Hertels gesamter Freundeskreis ist gehörlos oder schwerhörig, auch ihre Freundin. Die Vorstellung, eine Beziehung mit einer Hörenden zu führen, erscheint ihr abwegig. „Viel zu kompliziert! Die reden zu schnell oder undeutlich, da muss ich immer nachfragen: Was hast du gesagt?“

Hertel ist mit Schwerhörigen aus ganz Deutschland befreundet. Sie organisieren sich über Facebook, treffen sich in der Kneipe, zum Sport und zu 80er-Jahre-Partys. Eine Gemeinschaft, aus der sie auch mit Cochlea-Implantat nicht herausfallen will. Doch eine Woche vor der Operation schwappt die Angst in ihr hoch. Sie versucht, den Termin kurzfristig zu verschieben – vergeblich. Als sie die E-Mail der Universitätsklinik liest, schließt sie sich im Badezimmer ein und weint. Dabei hatte sie sich doch eigentlich auf das Implantat gefreut.

Um sich abzulenken, macht Beatrix mit einer Freundin eine Radtour im Berliner Umland. Als das Kreischen der einfahrenden S-Bahn alle anderen Geräusche schluckt, wechselt Beatrix fließend von Lautsprache zu Gebärdensprache und wieder zurück. Sie deutet mit dem Finger auf die Bahn, ballt die Fäuste und rollt ihre Hände wie Zugräder. „Das ist die richtige Bahn, oder?“, fragt sie ihre Freundin auf Gebärdensprache.

Gesprochene Worte

Nach der Operation ist Hertel übel und schwindlig, sie liegt zwei Wochen im Bett. „Ich habe überlegt: Wie wird es sein? Was ist, wenn ich nichts höre?“ Zurück in der Klinik, bei der ersten Anpassung, schluckt sie die Zweifel, atmet tief ein, klemmt sich den Sprachprozessor hinter das Ohr, schaltet ihn an. Das Mikrofon nimmt nun die Schallwellen auf.

„Eins. Zwei. Drei. Ich fange jetzt langsam an zu sprechen“, sagt Stefan Gräbel, der Audiologe.

Beatrix Hertel runzelt die Stirn. „Sie hören sich an wie eine Frau“, sagt sie, „mit einer schrillen Frauenstimme.“

Gräbel lacht. „Keine Sorge, bald klinge ich wieder wie ein Mann. Das Gehirn muss sich erst an die neuen Geräusche gewöhnen.“ In ein paar Wochen muss Beatrix wiederkommen, zur erneuten Anpassung.

Als Hertel aus der Klinik tritt, dreht sie ihren Kopf nach rechts. „Was ist das?“ Ein Brunnen plätschert. Beatrix konzentriert sich, reißt die Augen auf, während sie die Straßen entlanggeht. Schemenhaft fasert sich die Geräuschdecke auseinander: die Vögel, die Autos, ein Radfahrer bremst quietschend. „Es ist anstrengend, alles ist so ungewohnt laut." Dabei ist das Implantat noch leise eingestellt, sie muss sich langsam daran gewöhnen.

Ein halbes Jahr nach der Operation versteht Hertel bereits Geräusche ab 30 Dezibel, beim Hörtest erkennt sie die Hälfte der einsilbigen Worte – mit ihren Hörgeräten hatte sie kein einziges verstanden. Auf einem Firmenfest merkte sie, wie sie zum ersten Mal richtig mit ihren hörenden Kollegen feiern konnte. Der Raum hallte, alle redeten durcheinander – noch vor einem Jahr sei das ein Albtraum für sie gewesen.

Doch das Implantat allein genügt nicht. Beatrix muss wieder hören lernen. Mit der Logopädin entdeckt sie unbekannte Geräusche, lernt Satzfetzen zu deuten, ohne Lippen zu lesen. Beatrix übt mit Kinderbuchkassetten, aus Stimmenwirrwarr einzelne Wörter zu verstehen – was sich als schwierig herausstellt.

„Aber ich bin ehrgeizig, ich will so gut wie möglich hören und reden“, sagt sie. Auch wenn Hören sogar unangenehm sein kann. Früher musste ihre Freundin ab und zu Fernsehsendungen für sie in Gebärdensprache übersetzen. „Jetzt ist es mir fast zu laut, wenn sie den Fernseher ganz aufdreht“, sagt sie.

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