Christian Wulff über Bildungspolitik: "Bund leidet an Kontrollzwang"
Die Politik habe sich zu lange auf die Gymnasien konzentriert, sagt der Ministerpräsident von Niedersachsen, Christian Wulff. Er fordert ein Engagement des Bundes für Jugendarbeit an Schulen.
taz: Herr Wulff, was ist das für ein Gefühl, wenn man gescheitert ist?
CHRISTIAN WULFF, 49, CDU, ist seit 2003 Ministerpräsident von Niedersachsen, zuletzt bestätigt durch den Wahlsieg der CDU im Januar 2008. Erste Erfahrungen in der Bildungspolitik sammelte er als Schülersprecher seines Gymnasium.
Christian Wulff: Man fragt sich: Wie konnte das passieren? Aber dann sagt man sich: Die Chance ist jetzt, aus dieser Niederlage zu lernen.
War das Ihr erster Gedanke, als Sie in der 10. Klasse sitzen geblieben sind?
Es war kein Schock. Als es in Englisch und Französisch nicht gereicht hat, habe ich es halt noch mal gemacht. Aber ich habe das schon als Gefahr für mein großes Ziel gesehen, das Abitur zu machen und zu studieren.
80.000 Jungen und Mädchen in Deutschland schafften im letzten Schuljahr nicht einmal den Hauptschulabschluss. Scheitern sie, weil die Politik scheitert?
Die Abbrecherquote war und ist ein Riesenskandal. Viele dieser Jugendlichen sind nicht früh genug gefördert worden. Langfristig betrachtet muss man schon während der Schwangerschaft ansetzen, indem man den Müttern Hilfe anbietet. Dann durch Sprachförderung, durch frühkindliche Bildung, durch beitragsfreie Kindergärten, durch eine Verzahnung von Kindergarten und Ganztagsschule.
Warum kommt die Politik so spät darauf?
Die Politik hat sich extrem aufs Gymnasium konzentriert und alles, was nach der 10. Klasse kommt. Die Bildung von null bis zehn wurde total vernachlässigt. Wir meinten zu lange, alle Kinder würden umfassend zu Hause betreut.
Mit "wir" meinen Sie die CDU, die jahrelang gegen Krippe und Ganztagsschule gekämpft hat?
Mag sein, dass die Zurückhaltung gegenüber der Ganztagsschule im bürgerlichen Lager größer war als bei den Sozialdemokraten. Wir waren reserviert: "Vater, Mutter, Tochter, Sohn - alle wählen die Union", so der Slogan in den 50ern, essen mittags zusammen am Tisch, und dann gehts an die Hausaufgaben. Aber so ist es immer seltener.
Wie kann die Kanzlerin beim Bildungsgipfel helfen, die eigentlich für Schule nicht zuständig ist?
Zunächst einmal ist es gut, das Thema Bildung so in den Mittelpunkt zu rücken. Die Bildungspolitiker brauchen Rückenwind, weil sie ständig mit den Finanzministern über das Geld verhandeln müssen und nicht den notwendigen Stellenwert haben.
Wo kann der Bund konkret helfen?
Das Einfallstor sollte die Jugendhilfe sein. Dort hat der Bund auch Zuständigkeiten. Wenn er bei Sozialarbeit, Jugendhilfe oder Stadtteilarbeit helfen würde, wäre das der wertvollste Beitrag.
Wie könnte das aussehen?
Das finnische Bildungssystem hat Erfolg, weil dort eine Vielfalt von Berufen an den Schulen vertreten ist und nicht nur Lehrer, Hausmeister und Schulsekretärinnen wie bei uns. Die Kommunen sollten die Jugendarbeit an den Schulen stärken. Der Bund könnte ihnen als Konsequenz aus dem Bildungsgipfel finanziell helfen - mit einem Prozentpunkt der Umsatzsteuer oder einer Senkung der Gewerbesteuerumlage.
Der Bund wird den Kommunen ungern Milliarden Euro geben, ohne bestimmen zu können, was damit passiert.
Die kommunalen Spitzenverbände werden da sehr gesprächsbereit sein. Eine Stadt oder eine Gemeinde muss für Kinder möglichst viel bieten, um zukunftsfähig zu bleiben. Schon ohne, dass wir Geld geben, machen niedersächsische Städte wie etwa Salzgitter jede Grundschule zu einer Ganztagsschule und bieten Mittagsverpflegung an.
Sie definieren die Ganztagsschule über das Essen: vorher Schule, nachher Betreuung. Bundesbildungsministerin Annette Schavan schwärmt davon, den Unterricht über den Tag zu verteilen. Sie nicht?
Es muss nicht auf den Tag verteilt werden. Den Kernunterricht kann man am Vormittag organisieren. Dafür können wir am Nachmittag stärker die freie Jugendarbeit in die Ganztagsschule integrieren.
Weil das billiger ist?
Aus Kostengründen, aber auch, um eine Vielfalt zu erhalten: Die DLRG mit Schwimmkursen, die Landfrauen, die Hauswirtschaft unterrichten, eine Nabu-Gruppe, die sich für den Artenschutz einsetzt und Vögel mit Schülern auswildert. Das ist doch Menschenbildung auf höchstem Niveau.
Bewirken Ganztagsschulen, dass weniger Jugendliche die Schule abbrechen?
Wir haben die Schulabbrecherquote in Niedersachsen in vier Jahren von 10,5 Prozent auf 7,2 Prozent gesenkt. Der wesentlichste Schritt dorthin ist die Veränderung der Hauptschule: Wir haben fast alle Hauptschulen zu Ganztagsschulen gemacht, und in nahezu jeder gibt es einen Sozialarbeiter.
Bei den Einwanderern ist die Abbrecherquote in Niedersachsen nicht gesunken, sondern gestiegen. Warum?
Migrantenkinder haben es oft schwerer, weil die Eltern nicht so helfen können. Deshalb ist dort die Sprachförderung wichtig. Wir machen schon vor der Einschulung bei den Vierjährigen einen Sprachtest. Wer Defizite hat, bekommt eine intensive Förderung. Das wird sich in Zahlen niederschlagen, sobald diese Kinder die Schule abschließen.
Die Hälfte der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss findet keine betriebliche Lehrstelle. Wie wollen Sie dieses Scheitern verhindern?
Durch gute Abschlusszeugnisse zum Beispiel. Nehmen Sie das Projekt, das wir mit der Bundesagentur für Arbeit entwickelt haben. Hauptschülern wird ab der 8. Klasse ein Betreuer an die Seite gestellt. Diejenigen, die in diesem Programm sind, haben sich um fast eine Note verbessert. Daran sehen Sie auch, dass sich der Bund engagieren kann, ohne in die Zuständigkeit der Länder einzugreifen.
Sie geben sich sehr entspannt in dieser Zuständigkeitsfrage. Irritiert es Sie nicht, dass die Kanzlerin nun mit dem Bildungsthema auftrumpft?
Dazu fällt mir ein Erlebnis mit meiner Tochter ein: Vor einigen Jahren habe ich mal zu ihr gesagt: "Dieses Vogelhaus im Garten sieht so schäbig aus, das muss jetzt weg." Da hat sie geantwortet: "Du hast den ganzen Winter über kein Futter hineingelegt und dich nicht darum gekümmert. Dann kannst du im Sommer auch nicht mitentscheiden, ob es wegkommt." Sie hat Demokratie begriffen. Natürlich denkt man, wenn die Länder zuständig sind: Was macht denn da der Bund? Nur, wenn es insgesamt darum geht, dass es im Garten allen gefallen möge, auch dem Hausvater, sollte er dann doch wieder mitreden übers Vogelhaus.
Das heißt: Angela Merkel soll sich ruhig kümmern?
Ich habe von Anfang an gesagt: Super, wir können über alles reden. Der Bund darf nicht kleinkariert denken und die Länder auch nicht. Es sollte bloß nicht der falsche Eindruck entstehen, dass wir Länder uns nicht gekümmert hätten.
Wenn Angela Merkel Geld in etwas steckt, möchte sie doch mitbestimmen und sich hinterher mit dem Erfolg schmücken. So funktioniert doch Politik, oder?
Die Politik sollte sich häufiger mit dem Erreichen des Ziels schmücken als mit der Ausformulierung des Weges. Die Bundespolitiker haben manchmal einen ungeheuren Kontrollzwang: Wenn wir Geld geben, wollen wir auch mit beraten. Wir hatten es schon beim Krippengipfel. Wir haben vereinbart: Der Bund, die Länder und die Kommunen geben jeweils 4 Milliarden Euro. Wenn ich mir angucke, was da alles ins Gesetz reingeschrieben wurde, spürt man ein Misstrauen des Bundes, dass statt Kinderkrippen Staatskanzleien gebaut werden.
Besteht nicht die Gefahr, dass am Ende nichts herauskommt, wenn nur über allgemeine Ziele geredet wird?
Vielleicht findet es die Öffentlichkeit auch gut, wenn nicht gleich über Geld geredet wurde, sondern über neue Lernkonzepte und darüber, andere Berufe in die Schule zu integrieren. Die Bürger sind es inzwischen leid, dass Probleme mit Geld zugeschüttet werden. Auf die Schultern klopfen, die Hand reichen, Stimmung verändern, das alles kann ich nicht durch Geld machen.
Wie fänden Sie es, das Schulterklopfen zu systematisieren und mit finanzieller Anerkennung zu verbinden?
Bund und Länder prüfen ja gerade die Idee eines bundesweiten Stipendienprogramms für begabte Studierende. Eine gemeinsame Förderung kann ich mir auch für die Schulen vorstellen: dass man Modellversuche anstößt, sie evaluiert und als Vorbild nimmt.
Könnte das über eine Schulstiftung geschehen?
Am Ende ist eine Stiftung verfassungsrechtlich die einfachste Lösung, wenn der Bund sich beteiligen möchte. Die Stiftung würde einen Wettbewerb ausloben. Die besten Anträge und Konzepte werden gefördert: Ganztagskonzepte, dezentrale Lernstandorte, neue Unterrichtsformen oder der Einsatz elektronischer Medien zur Sprachkompetenz und Bildungsvermittlung. Wir könnten zu einer Stiftung von einigen Milliarden kommen, um Projekte zum Vorbild für andere zu machen.
Sie wollten doch nicht so viel über Geld reden in Dresden, und jetzt haben Sie sich schon zwei Dinge gewünscht.
Intelligent ist, alles im Blick zu behalten. Das sind für mich zwei alternative Ansätze. Wenn der Bund etwas tun will, kann er das entweder über das Stiftungsmodell tun oder durch eine Entlastung der kommunalen Träger bei der Kinder- und Jugendhilfe. Aber noch einmal: Wir müssen uns zuerst einig werden, was wir wollen, und dann beraten, wie viel Geld wir brauchen. Ich fahre nicht nach Dresden, um dort das Gefühl zu haben, ich sei in Istanbul auf dem Basar gelandet.
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