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Christa Pfafferott Zwischen MenschenDer Tag der Schlange

Foto: privat

Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentar­filmerin. Sie hat über Macht-verhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Jetzt, da wieder zögerlich Konzerte beginnen, muss ich an die Schlange denken. Der Tag der Schlange hat sich fest in meine Erinnerung gebrannt. Es war kurz nachdem die Elbphilharmonie eröffnet hatte. Die Karten für die nächste Saison sollten an 40 Ticketschaltern in der Stadt um 10 Uhr gleichzeitig freigeschaltet werden. Es waren Orchester aus aller Welt angekündigt. Alle wollten Tickets. Eine Karte war wie ein Status-Symbol. Einmal die Elphi besuchen. Ich wollte meiner Mutter Karten schenken. Ein Ticket war ihr großer Wunsch. Ich war zwei Stunden zu früh gekommen und trotzdem zu spät. Am Schalter des Kontorhauses an der Laeiszhalle lief die Schlange um acht Uhr bereits um die Straßenecke. Manche hatten hier sogar übernachtet.

„Es war ein Fehler, zu diesem Ticketshop zu gehen“, sagte eine ältere Dame vor mir zu ihrem Mann: „Wir hätten rausfahren sollen in die sozial schwachen Gegenden, in die Einkaufscenter, da verkaufen sie die Karten auch. Da haben sie keinen Sinn für so was. Da hätten wir schnell Karten bekommen.“

Hinter mir standen eine kleine Frau mit einem Chihuahua auf dem Arm und ein langer Mann. Seine Frau und Tochter verabschiedeten sich mit einem Kuss von ihm. Gegenüber auf der Straßenseite war ein Kiosk. Davor tranken Männer Bier.

Dann öffnete sich die Tür des Ticket-Shops. Die Ersten traten mit wichtiger Miene ein, Listen mit Konzertwünschen in der Hand.

„Wie lange es wohl dauert“, fragte die Frau mit dem Chihuahua. „Es sind 150 vor uns“, sagte der lange Mann. Drin sind drei Mitarbeiter. Wenn jeder Kunde fünf Minuten braucht, sind es etwa vier Stunden.“ Vom Kiosk schwankte ein Mann auf uns zu. Seine Haare waren vorn kurz geschnitten, hinten lang, ein Vokuhila.

„Wartet ihr hier alle für die Konzerte?“, rief er. Die Dame wich zurück. „Ja. Kommen denn auch die Rolling Stones?“

„Ich gehe nicht davon aus“, sagte der lange Mann.

„Die sind alle komplett wahnsinnig“, rief der Vokuhila zu seinen Leuten am Kiosk.

Eine Mitarbeiterin trat nun aus dem Kartenhaus: „Ein Computer ist ausgefallen“, sagte sie. „Die Kollegen sind nur noch zu zweit. Ich bitte um Ihr Verständnis.“

„Mist. Die anderen Verkaufsstellen sind jetzt schneller“, sagte die Dame. Listen mit Konzerten gingen rum, die schon ausverkauft waren.

In der Schlange fand nun eine Entschleunigung statt. Da sich die Zeit ins Unbestimmte dehnte, bewegten sich die Menschen freier. Die Welt außerhalb verblasste. Telefonate ähnelten sich: „Ja ich bin immer noch da. Ja. Es dauert. Nee, ich geh jetzt nicht mehr. Ich hab jetzt schon so lang gewartet.“ Pizza wurde bestellt. Mit jeder Stunde verdichtete sich der Mythos um die Karten. Keiner ging. Alle anderen blieben ja auch. Verrückt, wer nun seinen Platz aufgab. „Man kommt nicht mehr weg. Man ist wie gefangen,“ beklagte sich die Chihuahua-Frau.

Langsam wurde es Abend. Auf den langen Mann kam seine Frau zu: „Wir zweifeln langsam an deinem Verstand“, sagte sie. „Das steht doch in keinem Verhältnis mehr. Komm nach Hause.“ „Nee, bitte noch nicht“, sagte er. Seine Frau ging wortlos. „Das kann nur jemand verstehen, der mit uns wartet“, tröstete ihn die Chihuahua-Frau.

Die Ersten traten mit wichtiger Miene ein, Listen mit Konzertwünschen in der Hand

Stückchen für Stückchen rückten wir weiter. Auf einmal sagte der lange Mann: „Ich glaub ich gehe jetzt. Ja. Ich mach das.“ Wir schauten ihn an. „Du kannst doch jetzt nicht gehen!“ Es war, als würde sich unser eigenes Tun infrage stellen.

„Doch. Ich bin ja frei.“ Er wirkte selbst verwundert. „Mir ist auf einmal ganz leicht zumute.“ Der Mann nahm seine Tasche: „Also. Los, Freunde, habt ein schönes Leben.“ Er ging.

Es war halb acht geworden. Eine Mitarbeiterin trat hinaus: „Ich weiß, Sie haben lange gewartet. Aber wir können den Shop nur bis acht Uhr offenhalten. Es kommen vielleicht nicht mehr alle dran. Gehen Sie nach Hause, sparen Sie sich die Zeit.“

Die Schlange raunte. Doch wir warteten weiter. Und dann, plötzlich, passierte es. Ich übertrat die Schwelle, ich schritt zum Schalter. Draußen löste sich wenig später die Schlange auf. Die Energie, die hier über zwölf Stunden einen Raum gebildet hatte, zerfiel. Nur ein paar leere Flaschen zeigten noch, dass hier eine Zusammenkunft stattgefunden hatte, eine Besessenheit. Ein großes, eigenes Konzert.

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