Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Vom Grüßen
Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Macht-verhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.
Ein Spaziergang am Fluss. Das Jahr ist noch neu. Winterlicht bricht durch die Bäume. Das Städtchen am Fluss ist so klein, das sich auch einander unbekannte Spaziergänger grüßen. Anders als in den Städten, wo die Menschen aneinander vorbeihuschen. Schade eigentlich. Fremde Gesichter anzusprechen, das zeigt sich hier, verbindet, auch wenn es Gedanken und Gespräche unterbricht. An diesem Tag ist es besonders schön. Der Spaziergang am Fluss scheint bei vielen noch geprägt vom neuen Jahr. Die Leute haben fröhliche, erwartungsvolle Gesichter. Die Aufregung des Anfangs ist zu spüren. Wie in einem Stadion, in dem alle noch etwas umherlaufen, bevor das Spiel beginnt. Die Karten sind für alle neu gemischt.
Eine Familie kommt den Pfad entlang. Der Mann trägt ein Kind auf den Schultern, dazu in jeder Hand ein Fahrrad. Sein Blick sagt ergeben: So ist es eben. Die Kinder wollen erst das Rädchen zum Spazierengehen mitnehmen und später wollen sie unbedingt getragen werden. Doch der Mann lächelt froh und stolz, neben ihm läuft eine Frau mit Kinderwagen. Sie wirken heiter. „Frohes neues Jahr“, rufen sie.
Dann kommt eine ältere Frau im braunem Mantel, allein unterwegs, ihr Gesicht schüchtern in die Sonne gereckt: „Guten Tag.“ Mit dem Gruß an sie öffnet sich ihr Gesicht plötzlich zu einem Lächeln, als würde ein Fenster in ihr aufgestoßen werden.
Etwas später fährt ein älteres Paar auf elektrischen Rädern vorbei. „Frohes neues Jahr“, grüßen sie energisch und drehen sich erwartungsvoll um: „Frohes Neues!“
Andere Menschen kommen nacheinander den Weg entlang. Allein, als Paar, in Grüppchen – „Hallo, guten Tag. Frohes neues Jahr.“ Die Begrüßung ändert sich in Nuancen, je nachdem wie freundlich die anderen scheinen, wie offen man selbst blickt. Ein Hin und Her, ein kurzer Kontakt der Augen, der Münder. So wie man in das Gesicht hineingrüßt, so kommt es zurück.
Ein Paar geht zusammen, wirkt fremd nebeneinander. Spannung umgibt sie, als hätten sie gerade gestritten. Ein vorsichtiger Blick, lieber nicht. Auch sie blicken hinab, kein Hallo. Vorbei, ohne Gruß.
Die instinktive Weise, mit der man in Bruchteilen von Sekunden Menschen einordnet, widerlegt sich dabei auch. Schubladen brechen auf. Immer wieder überrascht es, dass Leute anders reagieren, freundlicher lächeln als erwartet. Je mehr man den eigenen Weg verlässt, den Blick nach vorn richtet, desto mehr Persönlichkeit der anderen kommt zurück. Doch das gibt es auch: Ist man in sich oder ein Gespräch vertieft, ist es manchmal mühsam zu grüßen, die eigene Welt für das Gesicht der anderen zu verlassen.
Am Ende, bevor der Weg über eine Brücke führt, steht eine Frau in neongelber Kleidung mit runder Brille, Mütze und Zöpfen am Wegesrand. Aus der Ferne wirkt sie wie ein zu groß geratenes Kind. Auf Skistöcke gestützt, den Rücken parallel zur Erde, beugt sie sich weit mit gestreckten Beinen hinunter und blickt konzentriert zu Boden. Dort liegt nichts außer Erde. Was schaut sie an? Ist sie verwirrt? Leicht wäre es, sie zu passieren. Doch hier, der Weg am Fluss verlangt etwas anderes: „Hallo.“ Mit dem Gruß an sie richtet sie sich auf, in ihrem Gesicht ein sanftes Lächeln: „Ein Wurm“, sagt sie erstaunt. „Da ist ein riesiger Regenwurm.“ Sie zeigt auf die Erde. Und ja. Dort liegt ein glänzender, langer Wurm. Liebevoll schaut sie ihn an wie etwas sehr Seltenes, Wunderschönes.
„Ich habe ihn gerade mit den Stöcken vom Weg aufgehoben und hierüber gelegt, damit ihm nichts passiert.“ Sie sieht ganz glücklich aus. „Ich trage immer die Tiere rüber. Immer.“ Sie hebt die Stöcke. „Mit den Walkingstöcken kann man sie besonders weich anheben, hier vorne mit den Noppen.“
Sie redet weiter, von Insekten und den Tricks, wie man sie am besten rettet. Und dann plötzlich, wie unabgesprochen, reicht es. Die bunte Frau bückt sich wieder zum Wurm. Beschwingt durch den Blick in ihre Welt kommt ein neuer Gedanke: Vielleicht ist es ähnlich. Jeder Gruß ist ein unbekanntes Gesicht, ist ein kleines Ja. So wie wenn man ein Tierchen auf dem Weg wahrnimmt, und es vorsichtig auf die sichere Seite trägt.
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