China nach dem Maoismus: Konfuzius soll helfen
Erfolgt durch die Rückbesinnung auf das 6. Jahrhundert Chinas Rettung? Eine Reportage aus der "Vier-Meere-Schule", einem Internat westlich von Peking.
Morgenandacht in der "Vier-Meere-Schule": Sanfte Zither-Klänge streichen durch die Aula. Mädchen und Jungen stehen in Reih und Glied, hinten die Fünfzehnjährigen, ganz vorn die jüngeren. Auf einem Altar brennen Kerzen und Räucherstäbchen. Dahinter: Ein Porträt des Philosophen Konfuzius.
"Liebe Kinder", sagt Schulleiter Feng Zhe, "ihr seid noch jung, aber ihr sollt wissen, dass wir gemeinsam eine große Verantwortung tragen: Wir repräsentieren das Erwachen der chinesischen Kultur."
Der 39-Jährige, gekleidet in die schwarze Seidenjacke des traditionellen Beamtengelehrten, macht eine Kunstpause, dann mahnt er: "Enttäuscht die Erwartungen eurer Eltern nicht, lernt fleißig, studiert die Klassiker, damit ihr einst zu den großen Helden der Erneuerung Chinas gehört - und die Welt mit eurer Hilfe friedlicher wird."
Harmonische Gesellschaft
Eine friedliche Welt mit einer starken chinesischen Nation, die sich auf die Wertvorstellungen und Einsichten des Gelehrten Konfuzius (551-491 v. Chr.) beruft. Diese Zukunftsvision ist es, die Feng, ein ehemaliger Verlagsfunktionär aus der zentralchinesischen Provinz Henan, den 115 Kindern in seiner Privatschule am Fuß der Westberge von Peking vermitteln will. Dafür studieren sie vom Kindergartenalter an Klassiker wie das Buch der "Kindlichen Pietät" und die Lehrgespräche des Konfuzius in den "Analekten".
Die "Vier-Meere-Schule" trägt ihren Namen nach einem berühmten Satz des alten Meisters, der einst erklärt haben soll: "Zwischen den vier Meeren sind alle Menschen Brüder." In dem Internat leben Kinder zwischen drei und fünfzehn Jahren, die Eltern zahlen für Unterricht und Unterkunft 30.000 Yuan im Jahr - rund 3.000 Euro.
Die Einrichtung gehört zu Dutzenden Konfuzius-Schulen, die überall im Land entstehen - Symptom der Suche nach geistigem Halt in einer Zeit, in der die KP alle Werte und Regeln immer wieder auf den Kopf gestellt hat. Es ist noch nicht so lange her, als Chinas Staatsgründer und "Großer Vorsitzender" Mao Tse-tung Konfuzius und die Philosophen seiner Zeit als feudale Denker und Symbol für die Rückständigkeit Chinas verdammte: Die alten Lehren, die den Gehorsam der Frauen gegenüber den Männern, den Respekt der Untertanen vor der Obrigkeit und die Ehrfurcht der Kinder vor den Eltern fordern, seien Schuld an der Misere der Gesellschaft, erklärte Mao.
Konfuzius ist wieder nützlich
Deshalb rief er in den sechziger und siebziger Jahren die Jugend des Landes auf, die "alte Kultur" zu zerstören. Die Schriften des Konfuzius und anderer Klassiker gingen in Flammen auf, Skulpturen und Stelen wurden zerschmettert. Heute ist Konfuzius rehabilitiert, er ist wieder nützlich. Denn je stärker die Anziehungskraft des Marxismus schwindet, desto eifriger betont die KP, wie tief sie und ihre autokratische Herrschaftsform in der chinesischen Kultur verwurzelt sei.
Staats- und Partei-Chef Hu Jintao greift seit seinem Amtsantritt 2002 unermüdlich auf konfuzianische Kategorien wie "Harmonie" und "Loyalität" zurück. Er schuf das Schlagwort von der "harmonischen Gesellschaft" und möchte all jene Chinesen zu gesellschaftlichen Außenseitern erklären, die sich nicht mit dem von der KP festgelegten Spielraum zufrieden geben wollen.
KP-Chef Hu ließ die über 300 Institute, die Kultur und Sprache Chinas im Ausland verbreiten sollen, nach Konfuzius benennen. Mit viel Staatsgeld entstand 2010 ein aufwendig inszenierter Film über den Meister, der vor 2.500 Jahren durch die Fürsten- und Königtümer des damaligen Reiches wanderte und sich am Ende als Lehrer über Wasser halten musste, weil sich die Regenten jener Zeit nicht für seine Ideen moralischer Herrschaft begeistern wollten. Allerdings fiel der Film beim Publikum durch: Er war schlicht zu langweilig.
Nicht nur Reichtum, auch Sitte ist wichtig
Die Pekinger Professorin Yu Dan war erfolgreicher mit Konfuzius: Sie fand ein Millionenpublikum, dem sie mit Fernsehauftritten und populären Büchern seine Schriften mit einfachen Worten näher brachte. Nicht nur Reichtum, sondern auch Sitte, Anstand und geistige Werte seien wichtig, erfuhren die Chinesen. Mit Hilfe des Meisters wurde Yu Dan zu einer wohlhabenden Frau.
Ganz unumstritten ist die Rehabilitation des Konfuzius allerdings nicht. Einige KP-Kader kommen mit dem ideologischen Salto ihrer Führung nicht klar: Sie halten den Rückgriff auf den alten Konfuzius - ebenso wie die Öffnung zum Ausland und die kapitalistische Wirtschaft - für einen Verrat an Mao Tse-tung und für einen historischen Rückschritt. Der ideologische Konflikt zeigte sich zuletzt in einer merkwürdigen Affäre um eine 9,5 Meter hohe Statue des Philosophen. Sie war Anfang Januar feierlich vor dem Nationalmuseum am Rande des Tiananmenplatzes eingeweiht worden - schräg gegenüber dem Mao-Porträt am Tor des Himmlischen Friedens. Drei Monate später verschwand die Skulptur über Nacht ebenso überraschend wie sie gekommen war. Sie steht nun versteckt in einem Innenhof des Nationalmuseums.
Chinas Maoisten feierten den mysteriösen Umzug des Konfuzius auf ihren Webseiten als Sieg. Internet-Kommentatoren erinnerten bissig daran, dass der "Große Vorsitzende" nach Berichten seines Neffen Mao Yuanxin einmal erklärt haben soll: "Wenn die Kommunistische Partei eines Tages nicht mehr regieren kann oder in Schwierigkeiten ist und den Konfuzius zurückholen muss, ist das der Anfang vom Ende."
Chinesische Werte
Die Pekinger Verlegerin Hung Huang erklärt sich die Wiederkehr des Konfuzius so: "In meiner Kindheit habe ich gelernt, dass Konfuzius böse ist. Jetzt glaubt die Regierung, dass China zu viele westliche Werte importiert hat und will ein paar traditionelle chinesische Werte dagegensetzen." In Wahrheit aber wisse niemand mehr, worin diese Werte eigentlich bestehen, sagt Hung Huang. Die Tochter einer früheren Mao-Dolmetscherin ist eine weltgewandte Geschäftsfrau, hat viele Jahre in den USA gelebt und kürzlich eine Mode-Boutique für junge chinesische Designer eröffnet.
Als Kind ist sie ohne klassische Bildung aufgewachsen, jetzt will sie das nachholen, sucht wie viele Landsleute ihrer Generation nach den Wurzeln der eigenen Kultur: "Für mich als Chinesin ist es sehr wichtig, Konfuzius zu verstehen. Ich will so viele Interpretationen seiner Lehren lesen wie möglich, damit ich mir meine eigene Meinung bilden kann." In einer schicken Neubausiedlung am Rande Pekings versucht sich auch die Schriftstellerin Li Yang einen Reim auf die Konfuzius-Wiederkehr zu machen. Die 33-Jährige gehört zur Generation der Nach-Mao-Geborenen und bezeichnet sich als "öffentliche Intellektuelle", die ihre Aufgabe darin sieht, "gesellschaftliche Entwicklungen zu kommentieren und die Regierenden zu beraten". Sie hält dazu Vorträge, unter anderem an Parteischulen.
Den Konfuzius-Trend sieht sie pragmatisch: "Jetzt interessiert sich das Ausland mehr als früher für uns, weil China wirtschaftlich und politisch mächtiger wird. Man will uns besser verstehen, und deshalb benötigten wir ein kulturelles Symbol, das uns repräsentiert. Konfuzius war auch im Ausland schon bekannt, deshalb bot er sich an. Bislang hätten die Chinesen "immer nur vom Westen gelernt, aber jetzt haben wir etwas, was wir zurückgeben können".
Suche nach dem moralischen Kompass
Es gibt nach Lis Ansicht aber noch einen anderen Grund: "Wir haben in den letzten Jahrhundert schwere Kulturbrüche erlebt, wir sind sprachlos geworden und haben unseren Glauben verloren." Viele Chinesen hätten erkannt, dass "es nicht reicht, immer nur nach materiellen Dingen zu streben". Sie suchten deshalb nach einem moralischen Kompass - und fänden ihn unter anderem in Konfuzius. Dafür spricht auch die die Begeisterung der Millionen chinesischen Besucher, die alljährlich in den Geburtsort des Philosphen nach Qufu in der Provinz Shandong reisen und sich dort vor seinem schlichten Grab zu verneigen.
Die öffentliche Intellektuelle Li und die Verlegerin Hung sind sich einig, dass man nicht alles am Konfuzius gut finden muss: Jene Textstellen zum Beispiel, die fordern, dass sich die Frauen den Männern unterordnen sollten, "muss man einfach ignorieren oder anders interpretieren", sagt Li.
In der "Vier-Meere-Schule" lernen bereits die Dreijährigen im Kindergarten Passagen aus dem Buch der "Kindlichen Pietät" auswendig. Sie mögen zwar noch nicht wissen, was sie sagen, räumt Schulleiter Feng ein, "aber das macht nichts, es trainiert das Gedächtnis und sie werden es verstehen, wenn sie älter werden".
Eine Stunde dauert die Zeremonie in der Aula, in der Feng die Schüler auf das kommende Semester einstimmt. Bevor Lehrer und Klassensprecher für ihre kleine Ansprache ans Pult kommen, verbeugen sie sich nach traditioneller Art tief vor dem Bild des Konfuzius, indem sie beide Arme über den Kopf strecken und die Hände falten. "Ich respektiere meine Eltern jetzt mehr, sie haben so viel für mich getan", sagt ein Schüler.
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