■ China: Das Tiananmen-Massaker ist aus dem kollektiven Gedächtnis der chinesischen Bevölkerung weitgehend getilgt: Ausgelöschte Erinnerung
Die Szene dürfte osteuropäische Intellektuelle nostalgisch stimmen. Das Café liegt gleich neben einem Buchladen in der Altstadt. An einem Tisch in der hinteren Ecke sitzt eine kleine Gruppe von Schriftstellern und Gelehrten, vertieft in eine Diskussion über Liberalismus und die Hegemonie des Westens. Immer wenn die Stimmen lauter werden, dreht der Besitzer die Musik auf. Eine Frau im mittleren Alter hat ein Bittschreiben verfaßt, das sie herumgibt: Den Müttern, deren Söhne und Töchter vor zehn Jahren getötet wurden, sollen Postkarten und Nelken geschickt werden – Peking im Mai 1999.
„Diese Mütter“, versucht sie die Anwesenden zu überzeugen, „sind zu Ausgestoßenen geworden, fast wie Aids-PatientInnen, niemand möchte sie anfassen. Sie sind völlig isoliert. Wir sollten sie zumindest wissen lassen, daß wir uns an sie erinnern. Schließlich schreiben wir jetzt den zehnten Jahrestag, und irgend etwas müssen wir doch unternehmen.“ Sie fährt fort, doch die anderen – fast alle Männer – diskutieren unbeirrt weiter über Friedrich August von Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“, ein Wirtschaftsklassiker, der ein Jahr zuvor ins Chinesische übersetzt wurde und auf großes Interesse in intellektuellen Kreisen stieß. Die Frau hingegen erhält auf ihre Bitte keine Antwort.
Die männlichen Intellektuellen mögen sich zwar durchaus für das tragische Datum interessieren; wenn eine Wunde aber wirklich tief ist, tief und unaussprechlich, greifen Menschen auf sehr unterschiedliche Wege der Selbstheilung zurück. Zehn Jahre bilden eine Kluft zwischen Generationen. Die heute 25jährigen scheinen geradezu erpicht darauf zu sein zu erzählen, daß sie zu jung gewesen seien, um in irgendeiner Weise für das Geschehene verantwortlich gemacht werden zu können. Und fügen schnell hinzu, das einzige Ziel, für das es sich heute lohne zu kämpfen, sei die Karriere. Das hingegen weiß niemand besser als die Generation der 35jährigen. Einer der Aktivisten von 1989 ist jetzt Besitzer eines schicken Restaurants und erklärt, er rede grundsätzlich nicht über Politik. Ein anderer Studentenführer, der 1989 ein Jahr im Gefängnis verbringen mußte, besitzt eine florierende Buchhandelskette und betreibt einen Verlag. Erinnerungen werden in irgendeiner Schublade des Gedächtnisses aufbewahrt, nicht verloren, aber weggeschlossen. Und in einer ruhigen Minute vertraut er dem Besucher vielleicht an, daß für ihn Bücher verlegen ohnehin subversiver sei als Straßenproteste.
Für viele, die älter sind als 45, war der Massenmord am vierten Juni 1989 nicht so sehr ein Schlag in die Bewußtlosigkeit, sondern vielmehr der letzte noch fehlende Nagel an jenem Sarg, in dem ihr Glauben an den Sozialismus bereits vorher schon lag. Sie alle hatten den Wahnsinn der Kulturrevolution miterlebt, der ihnen die besten Jahres ihres Lebens raubte, und der schwarze 4. Juni zerschlug ihre wiedererwachte Hoffnung auf Veränderung. Nicht alt genug ist diese Generation, um sich an die Jahre 1960 – 63 erinnern zu können, in denen schätzungsweise 30 Millionen Menschen dem Hungertod zum Opfer fielen. Diese Hungersnöte waren keine natürlichen, sondern von Menschenhand geschaffene Katastrophen. Die 55jährigen können noch bis in die Einzelheiten jene Zeit beschreiben, in der DorfbewohnerInnen wie Fliegen dahinstarben. Es ist die Wert- und Sinnlosigkeit ihres Lebens, welche die DorfbewohnerInnen von damals mit den StudentInnen eint, die von Soldatengewehren erschossen wurden.
Die 65jährigen schließlich haben alles miterlebt. Sie könnten sich einfach hinsetzen und all die Leichen zählen, die sie in 50 Jahren totalitärer Herrschaft mit eigenen Augen gesehen haben. Und dennoch demonstrierten viele von ihnen am 4. Juni 1989, aufgeschreckt von ihrer eigenen moralischen Entrüstung. Lin beispielsweise ist ein solcher Mann. Er war Chefherausgeber einer Zeitung und bekam eine fünfjährige Haftstrafe für seine offene Unterstützung der StudentInnenbewegung. Nach seiner Freilassung wagte niemand, ihn einzustellen und er blieb von Freunden abhängig, die ihn heimlich und mehr schlecht als recht unterstützten. Was bedeutet der zehnte Jahrestag für ihn? Heute, mit seinen 65 Jahren, hat er alle Zähne verloren und ist erblindet.
Geschichte funktioniert wie ein Sieb, durch das Millionen von Menschen beim „Aufräumen“ fallen, und alle paar Jahre findet ein größeres „Aufräumen“ statt. Die Welt draußen betrauert den Tod der jungen Studierenden auf dem Tiananmen-Platz, aber sie bekommt nicht das langsame Sterben hinter den Kulissen zu sehen, Schicksale wie das von Lin. Und es bleibt immer eine gewisse traurige Ironie, wenn der Ereignisse am 4. Juni mit einer besonderen Ehrung gedacht wird, weil es so viele schwerere Verbrechen gibt, die nie zur Sprache gekommen sind; die Kulturrevolution ist nicht das einzige Thema, das 30 Jahre lang ein Tabu blieb. Die Vorfälle am 4. Juni werden einfach eingereiht in eine lange Liste von ausgelöschten Erinnerungen.
Können Erinnerungen überhaupt ausgelöscht werden? Offensichtlich schon. Die 25jährigen wissen nicht viel über das, was am 4. Juni 1989 geschah, ebenso wie die 35jährigen nicht viel über die Ereignisse im Jahre 1966 wissen. Unter College-StudentInnen der Provinz Henan wurde im vergangenen Jahr eine Umfrage durchgeführt: „Was wissen Sie über die Kulturrevolution?“ 80 Prozent der Befragten antworteten mit: „Gar nichts“.
Sollte irgend jemand es wagen, unter der jüngeren Generation eine Umfrage über das Massaker am 4. Juni durchzuführen, wäre ein ähnliches Ergebnis sicherlich nicht erstaunlich.
Die Propagandamaschine funktioniert wie ein Bleistift mit Radiergummi. Mit dem einen Ende löscht sie wahre Erinnerungen, mit dem anderen zeichnet sie erfundene „Erinnerungen“ über die Leerstellen. Als letztes Jahr der Jangtse-Fluß über seine Ufer trat, wurde die ungeheure menschliche Not genausowenig gezeigt wie die für diese Not verantwortliche systematische Korruption oder das Mißmanagement. Statt dessen erhielten die „heroischen“ Soldaten, die für die Partei stehen, die volle Aufmerksamkeit der Medien. Niemals sieht man, wie die Bauern nach der Flut gegen Pest und Krankheiten, Hunger und Tod kämpfen mußten. Aber ist das ungewöhnlich? Natürlich nicht. Man sieht nicht, wie der arbeitslose Arbeiter seinen eigenen Körper mit Benzin übergoß und sich verbrannte, wohin muslimische Dissidenten verschwanden oder was mit jenem Mann im weißen Hemd geschah, der sich am 4. Juni 1989 einem Panzer entgegenstellte. In diesem Land werden nicht nur die Erinnerungen der Vergangenheit ausgelöscht, es ist sogar unmöglich zu sehen, was in diesem Moment in der eigenen Welt passiert.
Ein solches System hätte ohne die Mitwirkung des Volkes nicht funktionieren können. Unter den Überlebenden, die nicht durch das Sieb durchgefallen sind, sind viele – Idealisten wie Opportunisten –, die das System verteidigen. Sie finden Rechtfertigungen für die Repression: Wären die Unruhen am 4. Juni nicht niedergeschlagen worden, argumentieren sie, würde unser Schicksal heute ähnlich sein wie das Rußlands. Chaos sei mehr zu fürchten als irgend etwas anderes. Und die Nato-Bombardements auf Belgrad bewiesen wieder einmal die Hegemonie des Westens, gegen die nur die Unterstützung des kommunistischen Regimes helfe. Der Status quo sei die beste Wahl, um ein mögliches Chaos ebenso abzuwehren wie die Übermacht des Westens.
Gleichzeitig versuchen die Bauern weiter, mit dem jeweils gegebenen „Status quo“ zurechtzukommen, aber sie können sich eben nicht aussuchen, ob es Regen oder Sonnenschein gibt. Die Intellektuellen wissen, daß sie die repressivste politische Kontrolle in der gesamten chinesischen Geschichte miterlebt haben. Sie besitzen Erinnerungen, stapelweise Erinnerungen, die von einer der schmerzhaftesten und blutigsten Zeit aller Zeiten zeugen. Eines Tages wird man diese verbotenen Erinnerungen kennen, aber es wird wahrscheinlich zu spät sein: Diejenigen, die am meisten leiden mußten, werden nicht mehr am Leben sein, und Erinnerungen werden nicht mehr sein als ausgetrocknete Daten in Schulbüchern, befreit von ihrem emotionalen Gewicht. Die Welt draußen zündet zur Erinnerung am 4. Juni 1999 eine Kerze an – für ein Volk, dem das Recht genommen wurde, zu sehen und sich zu erinnern. Lung Yingtai
Aus dem Englischen von Johannes Metzler
Geschichte funktioniert wie ein Sieb, durch das Millionen von Menschen fallen
Die Mütter der getöteten StudentInnen sind zu Ausgestoßenen geworden
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