Chefredakteur über Zeitungsreform: „Wir gehen keinen Sonderweg“
Die Mitarbeiter der „Thüringer Allgemeinen“ sind unzufrieden mit Chefredakteur Paul-Josef Raue und seinen Reformen. Der apelliert, die neuen journalistischen Freiheiten zu nutzen.
Paul-Josef Raue kommt beschwingt ins Café am Erfurter Hauptbahnhof. Das ist keine Selbstverständlichkeit, Raue hat nämlich an diesem Tag Geburtstag. 62 Jahre, in dem Alter, in dem andere ans Aufhören denken, möchte Raue noch mal durchstarten, mit einem für Deutschland ganz neuen Desk-Konzept bei Regionalzeitungen, das sich an die angelsächsische Journalismustradition anlehnt.
Oder möchte er nur den Eindruck erwecken? 2010 hat er bei der Thüringer Allgemeinen (TA) deren langjährigen Chefredakteur Sergej Lochthofen abgelöst, auf Befehl der WAZ-Konzernzentrale, für die er seit 2007 mit Übernahme der Braunschweiger Zeitung arbeitete. Als Chefredakteur hatte er das Desk-Modell seit 2001 auch in Braunschweig eingeführt, das zwischen Reportern, die recherchieren, und Blattmachern, die redigieren, unterscheidet.
Raue probt mit der TA seit 2012 den Neustart, viele halten diesen für überflüssig. Die Stimmung in der Redaktion sinkt ständig, genauso wie die Auflage. Anfang Juni machten sich rund 80 RedakteurInnen Luft in einem offenen Brief an den Chef. Punkt für Punkt zählen sie Defizite und Probleme auf und stellen die Machtfrage. Der Tenor: Es geht nicht mehr.
taz: Herr Raue, wollen Sie mit dem Kopf durch die Wand?
Paul-Josef Raue: Wir erfinden die Regionalzeitung neu. Wir nehmen unsere Leser ernst: Was braucht ihr für euer Leben? Was verlangt ihr von eurer Zeitung? Wie können Redakteure ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden und zugleich die wirklichen Bedürfnisse der Leser befriedigen? Deshalb organisieren wir die Redaktion neu: Es gibt nicht mehr den Redakteur, der alles macht; es gibt den Reporter, der recherchiert und unterwegs ist, wo das Leben pulsiert; es gibt den Blattmacher, der mit hoher Qualität redigiert und produziert.
geboren in Castrop-Rauxel in Nordrhein-Westfalen. Er hat mit dem Journalisten und Medien-Trainer Wolf Schneider ein Standardhandwerk für junge Journalisten verfasst. Es beschreibt die Anforderungen, die der Beruf nach Ansicht der Autoren an den Berufseinsteiger wie auch den „erfahrenen“ Redakteur immer wieder aufs neue stellt.
Dieser Umbruch verläuft rasend schnell, in der Tat, da bräuchte es ein Übermaß an Kommunikation. Das mag Sie wundern, aber ich unterschreibe 80 Prozent von dem, was die Redakteure beklagen. Wer allerdings interne Debatten, sogar mithilfe von Politikern, nach außen trägt, der beschädigt das Vertrauen. Wir sind doch nicht die taz.
Den Verweis auf die taz hat Raue bei der Autorisierung eingefügt. Überhaupt ist das Interview von ihm noch überarbeitet und verdichtet worden. Das ist nicht unüblich, geht aber in diesem Fall über das übliche Maß hinaus.
Die Redakteure werfen Ihnen aber vor, dass seit dessen Einführung die Qualität abnimmt. Läuft da etwas falsch mit dem neuen Modell?
Nein. Aber für viele ist es ein Kulturschock. Wir sind mitten in einem Prozess, der das traditionelle Rollenverständnis von Journalisten berührt und verändert. Natürlich entstehen in einem solchen Prozess auch Ängste.
Die Redakteure fordern aber klarere Strukturen, vernünftige Konferenzen, wollen wissen, woran sie sind oder sein sollen!
Die Struktur, nach angelsächsischem Muster, ist klar – und für manche eher unheimlich streng: Wir haben einen Desk für den Mantel und einen für die Lokalredaktionen. An den Tischen wird entschieden und das Blatt gemacht. So haben wir den Freiraum für Recherchen geschaffen. Es kommt nun darauf an, wie die Redakteure mit ihren neuen journalistischen Freiheiten umgehen. Da haben wir schon viel gewonnen. Die TA ist beispielsweise eine der führenden Zeitungen bei der Aufklärung der NSU-Affäre. Aber zwischen Freiheit und Notwendigkeit schwankt das Pendel im Moment noch heftig hin und her.
Und wie lautet Ihr Rezept für eine Regionalzeitung wie die TA? Eigentlich gehen Sie in diesem Fall doch einen Sonderweg durch die Aufgabentrennung.
Wir gehen keinen Sonderweg. Viele Chefredakteure wissen, dass sie unterschiedliche „Kunden“ haben – nicht nur die Redakteure, sondern vor allem die Leser. Und die Leser werden immer anspruchsvoller, wollen Qualität in ihrer Zeitung, gerade auch im Lokalteil. Sie wollen exzellent erzählte Geschichten und gut recherchierte Nachrichten, sie erwarten den gleichen Tiefgang im Lokalen wie in Berichten über Griechenland. Da wollen wir hin, dafür ist die Desk-Struktur ideal.
Was folgt als Nächstes? In der Redaktion ist von „schnellen Eingreiftruppen“ die Rede, die in Ihrem Sinn nun die Lokalteile auf Vordermann bringen sollen.
Wir konzentrieren uns auf das Lokale, debattieren über den idealen Lokalteil. Es ist ein Fehler, wenn sich ein Chefredakteur viel mit der Zentrale beschäftigt und wenig mit den Lokalredaktionen. Da bin ich meinen eigenen Ansprüchen und Einsichten nicht gerecht geworden. Zusammen mit dem Chef unseres Thüringen-Tischs und einer kleinen Truppe werde ich in die Lokalredaktionen gehen.
Haben Sie keine Bedenken, dass das wieder nach hinten losgeht – da kommt wer eingeritten und zeigt, wie’s gemacht wird?
Wir reiten nicht, wir sprechen mit den Lokalredakteuren. Die TA hat viele hervorragende Lokalredakteure, und deshalb kommen keine Leute und sagen: „Ihr seid dumm“. Da werden Profis auf Augenhöhe miteinander sprechen: „Wir helfen uns gegenseitig! Wir schaffen es gemeinsam!“ Wir müssen die Maßstäbe unserer Leser begreifen, die Qualität wird ja von den Lesern beurteilt. Und die haben uns unmissverständlich gesagt: Ihr Redakteure schreibt oft von oben herab, wir verstehen euch oft nicht, euch fehlt die Leidenschaft – vor allem für unsere Heimat. Sie verlangen gut recherchierte Nachrichten und einen emotionalen Zugang zu Themen. Sie wollen mehr Dialog, mehr Debatten, eben mitreden statt Belehrung.
Die Zahl der Unterzeichner – fast 80 TA-Journalistinnen und Journalisten – kann man aber auch als klares Misstrauensvotum lesen. Was macht Sie so sicher, dass Sie Ihren Kurs durchsetzen werden?
Redakteure sind in der Mehrzahl kluge Menschen, aber auch sie reagieren auf Veränderungen nicht selten verunsichert. Die Redakteure kennen die eindeutigen Ergebnisse unserer Leserforschung. Sie kennen ihre Fähigkeiten, entwickeln immer mehr Freude, ja Lust an tiefen Recherchen. Sie sind dabei, ihre Furcht vor der neuen Freiheit zu verlieren, aber sie müssen auf gewohnte autoritäre Strukturen verzichten. Revolutionen brauchen Zeit, und sie brauchen offenbar auch viel, viel Kommunikation.
Aber reicht der lapidare Verweis auf die Zeit, um schwere Zweifel an Ihrer Führung auszuräumen?
Geduld ist eine wichtige Eigenschaft für jeden, der führt, ebenso wie Respekt – gleichermaßen vor Redaktion und Leserschaft. Das ist nicht lapidar. Lapidar ist dagegen, wenn Ihre Fragen suggerieren sollen: Die Redaktion der TA ist rückwärts gewandt, sehnt sich nach guten alten Zeiten, will den ganzen Tag in Konferenzen verbringen, statt auf die Straße zu gehen. Sie holte schon zweimal hintereinander einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise. Sie ist als Reporterzeitung eine der stärksten Zeitungen im Osten. Dass sich dieses neue Selbstbewusstsein erst einmal gegen den Chefredakteur richtet, macht mir weniger Freude als der Redaktion. Aber ich bleibe optimistisch, auch gegen die Zweifler: Wir schaffen gemeinsam eine neue Qualität, in der Redaktion und vor allem für die Leser in Thüringen.
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