: Chaos in Gaza
AUS JERUSALEMSUSANNE KNAUL
Bewaffnete Palästinenser stürmen Wahlbüros, Ausländer werden auf offener Straße entführt, der Freizeitclub für das UN-Personal im Gaza-Streifen wird noch in der Silvesternacht überfallen: Nach dem israelischen Abzug Ende August nehmen Anarchie und Chaos in dem palästinensischen Landstreifen am Mittelmeer immer erschreckendere Formen an. Aus Protest gegen die schlechte Ausrüstung und ihre mangelnden Kompetenzen, gegen die bewaffneten Banden vorzugehen, besetzten rund 200 Polizisten gestern über mehrere Stunden verschiedene Regierungseinrichtungen.
Nur mit knapper Not konnten zwei japanische freiwillige Mitarbeiter einer Hilfsorganisation gestern einem Entführungsversuch entkommen, nachdem erst in der vergangenen Woche drei Briten und ein Italiener in Geiselhaft fielen. Alle befinden sich inzwischen wieder auf freiem Fuß. Die Gewalt richtet sich seltsamerweise gerade gegen die Personen, die mit besten Intentionen kommen. Erst Ende November wurde am ägyptischen Grenzübergang Rafah eine Gruppe europäischer Experten stationiert, die sich nun vor dem Kugelhagel maskierter Männer in Sicherheit bringen mussten. Nur durch die Entsendung der EU-Delegation war die Öffnung der Grenze überhaupt möglich geworden. Ungeachtet der maroden Sicherheitslage will die EU Beobachter zu den für Ende Januar geplanten Parlamentswahlen schicken. Dabei sollen indes besondere Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden. Eine extremistische Gruppe hatte zuvor erklärt, dass die EU-Mitarbeiter nicht immun seien. Eine erste Gruppe der Wahlbeobachter ist bereits eingetroffen.
Auch die UN-Mitarbeiter, die seit Jahrzehnten für die Erziehung, die medizinische Versorgung sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Flüchtlingslagern sorgen und in den vergangenen fünf Jahren verstärkt Nahrungsmittel für die Ärmsten organisieren, werden nicht länger verschont. Am Silvesterabend stürmten bewaffnete Palästinenser den unmittelbar am Strand gelegenen Freizeitclub der UN, schlugen den Wachmann nieder und warfen mehrere Handgranaten in das Gebäude. Der Club ist einer der wenigen Orte im Gaza-Streifen, wo alkoholische Getränke verkauft werden.
Die Motive für die Gewalt sind unterschiedlich. Der Überfall auf den UN-Club geht ohne Zweifel auf das Konto einer islamistischen Gruppe. Anders die Entführungen. Dabei geht es mal um den Versuch, inhaftierte Verwandte freizupressen, mal um interne Fatah-Konflikte oder um Proteste gegen israelische Maßnahmen, wie jüngst die Errichtung einer Sicherheitszone. So sollten die drei Briten in der fraglichen Zone festgehalten werden.
Die Armee hatte infolge des fortgesetzten Raketenbeschusses aus dem Gaza-Streifen vorige Woche die palästinensische Bevölkerung aufgefordert, eine etwa 2,5 Kilometer breite Bannmeile im Norden nicht zu betreten. Trotz der Maßnahme, die in Armeereihen unter dem Namen „Operation blauer Himmel“ gehandelt wird, fielen am Wochenende erneut Raketen auf israelisches Gebiet. Daraufhin flog die israelische Luftwaffe neue Angriffe und bombardierte sechs Zufahrtsstraßen zum nördlichen Gaza-Streifen.
Zusätzlich angeheizt wird die angespannte Lage von den bevorstehenden Wahlen. Während innerhalb der Fatah die Forderung einer Verschiebung der Wahl zunimmt, beharrt die Hamas auf dem 25. Januar.