Chancen dank Obama: Ein Land ohne Angst
Seit den 60ern standen sich in den USA Konservative und Liberale unversöhnlich gegenüber. Obama könnte mit einem Thema wie soziale Gerechtigkeit eine neue Plattform schaffen.
Amerika ist in der Nacht zum Mittwoch ein wenig bunter geworden. Erstmals seit langem ähnelt die politische Landkarte der USA wieder einem Flickenteppich. Vorbei sind die Zeiten, als das Rot der konservativen Staaten breit über die Mitte und den Süden blutete und die blauen Staaten im Nordosten, Osten und Westen lediglich ein schmales Band rund um dieses republikanische Herz der Nation bildeten. Barack Obama ist es mit seinem Sieg gelungen, die alten Fronten aufzubrechen. Selbst traditionell rote Staaten wie Virginia oder Nevada gingen diesmal an die Demokraten, das Ergebnis in North Carolina und Indiana ist überraschend knapp, sogar Staaten wie Texas und Alabama drohten zu Beginn der Wahlnacht für eine Weile zu kippen.
Obamas Wahlkampfmantra, dass es kein blaues und kein rotes Amerika gebe, sondern nur ein Amerika, scheint sich tatsächlich zu bewahrheiten. Entgegen dem Glauben mindestens einer Generation von Amerikanern ist der Graben quer durch die amerikanische Gesellschaft anscheinend doch überbrückbar. Mehr als 40 Jahre lang schien das undenkbar: Als Lyndon B. Johnson 1964 seine Bürgerrechtsgesetze verabschiedete, überschrieb er langfristig den Süden und den Mittelwesten den Republikanern. Seitdem war die Mitte des Landes solide rot. Demokraten konnten bestenfalls noch auf einen hauchdünnen Überraschungssieg hoffen. So bekam etwa Bill Clinton 1992 nur 43 Prozent der Stimmen, Jimmy Carter erhielt 1976 als einziger Demokrat seit Johnson mit 50,1 Prozent eine knappe Mehrheit nicht nur der Wahlmänner-, sondern auch der Wählerstimmen.
Was ist passiert? Am meisten wurde der Obama-Moment wohl durch das Ableben der konservativen Bewegung begünstigt. Die Bewegung entstand in den 60er-Jahren, wie Nobelpreisträger Paul Krugman in seinem Buch "Nach Bush" schreibt, als "weiße Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung und die Paranoia wegen des Kommunismus". Sie erreichte ihren Höhepunkt in der Ära von Ronald Reagan und hatte zu Beginn des Amtsantritts von George Bush schon längst ihren Zenit überschritten. Bush wurde, wie George Packer in einer interessanten Analyse im New Yorker schrieb, nur gewählt, weil er sich 2000 als gemäßigter, "mitfühlender Konservativer" ausgab. Dass er kurz nach seiner Wahl die Macht an die konservativen Hardliner in seiner Administration übergab, war ein Betrug am Wähler. Seine Wiederwahl 2004 beruhte alleine auf der Angst, die er Amerika vor dem Terrorismus einzujagen vermochte.
Mit Ängsten operierten die Konservativen schon immer gerne: rassistische Ängste, puritanische Ängste vor der sexuellen Revolution und dem Sittenverfall sowie vor der kommunistischen Gefahr. Bis Ende der Neunziger ging diese Strategie der Polarisierung auf. Ihr Resultat war das, was man heute den "Kulturkrieg" in Amerika nennt. Die Linke reagierte mit ihrer Konzentration auf die Politik kultureller, sexueller und religiöser Identität sowie ihrem Diskurs der "Differenz". Die Fronten verhärteten sich, Amerika zerfiel in Rot und Blau.
Bis vor wenigen Wochen noch war dies der Stand der Dinge, auch wenn sich die Diskurse nach Meinung von Protagonisten beider Seiten längst abgenutzt hatten. Die Wahl hätte, wie die meisten Wahlen der vergangenen Jahrzehnte, auch haarscharf ausgehen können - wäre da nicht die Finanzkrise gewesen. Der Börsencrash erlaubte es jedoch, das Thema zu wechseln. Seither geht es in Amerika vor allem um soziale und ökonomische Ungleichheit und da hat Barack Obama schlicht die stärkere Botschaft. Versuche der Rechten, wie einst Ängste zu schüren und zu polarisieren, wie etwa Sarah Palins Rede von mehr und weniger amerikanischen Gegenden des Landes oder der Versuch McCains, Obama als Sozialisten zu denunzieren, blieben wirkungslos. Die alten Taktiken der Konservativen greifen schlicht nicht mehr.
Viele amerikanische Intellektuelle jubeln angesichts dieser Entwicklung. Nicht unbedingt, weil Obama die Wahl gewonnen hat, sondern weil sie der Meinung sind, dass das ganze Gerede um Identität und Differenz von der Linken und um "Werte" von der Rechten ohnehin nur dazu diente, die wahren Probleme der amerikanischen Gesellschaft zu verschleiern. So hatte sich Walter Benn Michaels erst im vergangenen Jahr in seinem Buch "The Trouble with Diversity" über die Perfidie ausgelassen, Armut als eine Art Behinderung oder als Stigma anzusehen, das es zu tolerieren gelte, anstatt etwas daran zu ändern.
So ist mit der Obama-Ära im immerwährenden Streit um das Definitionsrecht des Begriffes "Amerika" ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. Anstatt für Amerika als einen Ort uneingeschränkter individueller Freiheit zu kämpfen oder es als Ort uneingeschränkter Toleranz zu definieren, ist das Amerika von Franklin D. Roosevelt wieder auf der Tagesordnung. Nicht mehr Differenz oder die Minimierung von Regierungsintervention - Solidarität und soziale Gerechtigkeit sind die Themen.
Trotzdem gibt sich nicht einmal Obama der Illusion hin, dass der alte Kulturkampf endgültig vorbei ist. "Es gibt doch mittlerweile einen ganzen Medienapparat, eine ganze Industrie, die nur dazu da ist, die alten kulturellen Gräben auszubeuten", sagte er kürzlich der New York Times. Um diesen Apparat zu hintergehen, wandte sich Obama in der Nacht zum Mittwoch an alle, die noch Vorbehalte gegen ihn haben: "Ich habe vielleicht nicht eure Stimme bekommen, aber ich höre euch und ich werde auch euer Präsident sein", sagte er. Auch für McCain hatte Obama versöhnliche Worte: "Ich brauche Ihre Hilfe", sagte er zu ihm in einem Telefongespräch. "Sie sind in wichtigen Dingen ein Anführer." McCain klang ähnlich konziliant, als er bei seiner Ansprache seine Anhänger dazu aufforderte, "unserem neuen Präsidenten unseren guten Willen und ernsthafte Anstrengung anzubieten, unsere Differenzen zu überbrücken, um unseren Kinder ein stärkeres, besseres Land zu hinterlassen". Das klang wie der mögliche Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
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