Champions League: Nicht mehr als ein Haufen Spieler
Der AC Mailand hat nach dem Abgang des Genius Kaká viel an Qualität verloren. Jetzt reist der kriselnde Klub nach Madrid zum neuen Arbeitgeber des Brasilianers.
MAILAND taz | Der AC Mailand fährt nach Madrid und hat jede Menge Erinnerungen im Gepäck. Traumatische und rauschhafte. Zum einen naht das Wiedersehen mit dem verlorenen Sohn, Spielmacher und Spielgefährten Kaká. Mitten in der letzten Saison hatte der Brasilianer noch vor Freude heulend eine 100-Millionen-Offerte der Scheichs von Manchester City ausgeschlagen und bei der Gelegenheit dem Mailänder Club ewige Treue geschworen, um einige Monate später sehr sachlich nach Madrid zu gehen. Ob es ihn selbst mehr zu den Königlichen gezogen, der plötzliche Sparwille des Club-Eigners Berlusconi ihn dorthin befördert oder Kaká den andauernden Niedergang der Rossoneri schon vorausgeahnt hatte, bleibt weiter ein großes Betriebsgeheimnis - und ein famoser Anlass zur dauerhaften Spekulation.
Clarence Seedorf immerhin hat mit der Vergangenheit abgeschlossen. Selbst wenn sie ihm eng auf die Pelle rückt. Im Café im Sportzentrum Milanello sitzt er vor groß auf die Wände aufgezogenen Mannschaftsfotos aus den letzten Jahren mit Kaká in der Hauptrolle - und sagt trocken: "Kaká war sechs, sieben Jahre lang ein sehr wichtiger Spieler für uns. Wir hatten eine tolle Zeit und viele Erfolge miteinander. Jetzt ist er weg und diese Ära ist beendet." Punkt. Mit undurchdringlichem Lächeln schiebt er hinterher: "Wenn gute Spieler gehen, bedeutet dies noch nicht, dass eine Mannschaft zusammenbricht. Ajax und Real haben auch Titel geholt, nachdem ich fort war." Man muss dem vor Selbstbewusstsein strotzenden Mittelfeldakteur zugute halten, dass seine Cleverness, Technik und Spielübersicht zuvor Ajax und Real zum Gewinn der Champions League verholfen hatten.
In Seedorfs Betrachtung siegreich bleibender Mannschaften nach dem Verlust von Stars steckt allerdings auch schon die ganze Wahrheit über Milans aktuelle Lage: Eine Mannschaft kann solch einen Aderlass sicher kompensieren. Doch dazu muss ein Haufen Spieler erst eine Mannschaft sein. Dem AC Mailand ist dieser Zusammenhalt abhanden gekommen. Statt Kombinationsfußball nur Stückwerk. Wer über Qualität redet, hebt die Torhüter und das Innenverteidiger-Duo hervor. Den Rest trifft Schweigen. "Wir müssen wieder stärker harmonieren und offensiv besser werden", gibt Seedorf zu. Er glaubt aber auch, dass Kleinigkeiten helfen. "Man muss nur ein wenig ändern, dann läuft ein Spiel auch anders, und alle, die dich jetzt noch kritisieren, sind wieder voll des Lobes."
Die größte dieser kleinen Änderungen ist gegenwärtig ein Systemwechsel. Trainer Leonardo präferiert das kompakte 4-4-2. "Die Spieler stehen wieder enger beieinander. Das gibt Sicherheit", doziert der Brasilianer vor der Presse. Ob diese Kuschelformation ausreicht, ist fraglich. Die Charakteristika des gepflegt verzögerten Passspiels, die Milan einst die Erfolge brachten, wirken in Zeiten des technisch hochklassigen Blitzpassfußballs der Marke Barcelona so antiquiert wie ein Rolls Royce auf einem Formel-1-Kurs.
Einziger Trost für das ramponierte Luxusgefährt aus Berlusconis Mailänder Garage ist, dass auch der Real-Trainer Pellegrini sich unsicher ist, in welche Richtung er die königliche Kutsche entwickeln soll. Er weiß nur, was er nicht darf: "Wir orientieren uns nicht am FC Barcelona. Wir haben unsere eigene Philosophie."
Dass diese Philosophie keine Sieggarantie ist, weiß wiederum Milan-Akteur Ronaldinho. Vor vier Jahren hat er im Dress des FC Barcelona Real im Bernabeu vorgeführt. Er spielte beim 3:0-Sieg der Katalanen so interstellar, dass sich auch die Real-Fans von den Sitzen erhoben und applaudierten. Vier Jahre später sind seine Ziele kleiner. Ronaldinho wäre schon froh, wenn er beweisen könnte, zu zwei guten Spielen hintereinander in der Lage zu sein. Beim 2:1-Sieg gegen die Roma am Sonntag war er mit einem Strafstoßtor und einem herzzerreißend schönen Diagonalpass auf den Torschützen Pato herausragender Akteur. Ein Sieg in Madrid würde die Scharte der 0:1-Niederlage gegen den FC Zürich auswetzen, aber auch nur eine neue Kurve in der Achterbahnfahrt des AC Mailand sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut