Casting am Kalkberg: Entscheidung zwischen Schlägerei und Tanz

Für die jährlich stattfindenden Karl-May-Spiele in Bad Segeberg sucht die Kalkberg GmbH in einem Casting 35 Statisten. BewerberInnen zeigen dort, dass sie in der Lage sind, glaubhaft Cowboys, Indianer und Soldaten darzustellen. Ein Selbstversuch

Sie haben es geschafft: Statisten bei den Karl-May-Spielen Bild: dpa

BAD SEGEBERG taz| Karl May war ein Hochstapler. Seine Betrügereien brachten ihn bis ins Zuchthaus. Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Ich lasse mich inspirieren. Ohne meine Identität als Journalist preiszugeben, gehe ich durch die Tore des Indian Village in Bad Segeberg, um beim Casting der Karl-May-Spiele mitzumachen.

Zusammen mit mir drücken sich noch etwa hundert weitere Menschen durch die Tore. Heraus aus dem tristen Bad Segeberg, hinein in den Wilden Westen – Saloons, Tipis und Planwagen umzingeln das Indian Village. Aus großen Boxen ertönt Country-Musik – Texas Lightning.

Ronny läuft neben mir. Er ist ein alter Hase im Showbiz. Ob ich zum ersten Mal hier sei, fragt er und nimmt einen tiefen Zug von seiner Selbstgedrehten. „Ja“, sage ich kleinlaut. Er nickt und schiebt mit dem Zeigefinger seinen schwarzen Cowboyhut hoch; die Absätze seiner Cowboystiefel klacken laut auf dem Asphalt. „Ich bin zum 23. Mal hier“, sagt er und schnippst seine Zigarette davon.

Seit 1952 werden die Festspiele im Kalkberg Stadion in Bad Segeberg gefeiert. Dieses Jahr finden die Spiele zum 60. Mal statt.

Unter dem Motto "Eine Stadt spielt Karl May" wurden die Spiele ins Leben gerufen. Die Bewohner Bad Segebergs hauchten mit den Spielen der überdimensionierten ehemaligen NS-Spielstätte wieder Leben ein.

Im ersten Jahr der Aufführung besuchten rund 100.000 Menschen die Spiele. In den letzten drei Jahren waren jeweils 300.000 Menschen zu Gast.

Vom 23. Juni bis zum 2. September wird das Stück "Winnetou II" gespielt.

Neben ihm hüpft seine Freundin Uma von einem Bein auf das andere. Ihr ist kalt. Die Fransen ihrer Lederjacke hüpfen mit. „Uma hier. Die war sogar mal einen Nachmittag beim Großstadtrevier“, sagt Ronny und wartet auf ein gebührendes Echo meinerseits. Als ich nichts erwidere, schiebt er hinterher: „Das ist ’ne ganz andere Liga. Da gibt’s ’n Fuffi. Für nur einen Nachmittag. Das musst du erst mal verdienen.“

Kurz darauf bin ich nur noch eine Nummer in der Casting-Mühle. Namentlich die Nummer 12. Auf der Rückseite des großen gelben Zettels mit der Nummer wird nach sensiblen Daten gefragt: Konfektionsgröße? Adresse? Beschäftigung? Bühnenerfahrung? Hier kann ich also endlich mit meiner Karriere im Kindertheater glänzen.

Nummer 1 fragt mich, ob ich wisse, was uns erwartet. Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung!“ Die Mittzwanzigerin ist nervös. Sie möchte gerne reiten. Nummer 45 klinkt sich ein, „das mit dem Reiten war schon. Heute is’ kein Reiten mehr“, sagt sie. „Du kannst dich zwischen Schlägerei und Tanz entscheiden.“ Nummer 1 überlegt: „Ich find Kloppen schöner.“ Da sind wir uns einig.

Die Mittvierzigerin hinter mir in der Schlange ist nervös. „Meinste, dass die Frauen auch so dolle hauen müssen“, fragt sie mich. Wo ist Ronny, wenn man ihn braucht? Wir stehen vor der Station „Schlägerei“, zwei Stuntmänner reißen Witze auf ungarisch, während die Teilnehmer darauf warten, dass es los geht.

„Du musst ja gar nicht richtig hauen. Du musst nur antäuschen“, beruhige ich sie. Es gilt, eine Schlagabfolge zu absolvieren. Während die Frau hinter mir weiter plappert, hoffe ich nur, dass mich das NDR-Filmteam nicht vor die Linse bekommt.

Der junge Mann vor mir zieht hektisch seine Jacke und seinen Schal aus bevor es los geht. Der Stuntman wehrt mit Müh und Not einen Tritt in die Lendengegend ab. „Langsam, langsam“, brüllt Steve, der Stuntchef. Das Filmteam ist mittendrin. Der Teilnehmer macht laute Geräusche, während er schlägt. „Piff“, „Paff“, „Disch“. Wie bei Batman damals. Als das ganze vorbei ist, krickelt Steve etwas auf die Rückseite des gelben Zettels.

Jetzt bin ich dran. Das sollte ja wohl nicht so schwer sein. Und überhaupt: Ich habe jahrelang Karate gelernt. Bis ich zwölf wurde. Also: Schlag einstecken, zurück taumeln, Tritt Richtung Weichteile. Schlagabfolge vergessen. Noch mal von vorne. Der Stuntman stellt sich wieder breitbeinig hin wie ein Torwart, der, anstatt Bälle, Schläge fangen möchte.

Steve brüllt „langsam, langsam“, die anderen Teilnehmer gucken wie Autos. Beim zweiten Mal klappt das Ganze. Steve nimmt sich meinen Zettel und krickelt auch den voll. Zwei Sterne mit Strichen darunter. Das ist bestimmt gut, denke ich.

Vor Jahren habe ich einen Partnertanz-Kurs, zu dem meine Eltern mich gezwungen haben, abgebrochen. Da habe ich mir geschworen, nie wieder nüchtern zu tanzen. Auf der Veranda steht der Choreograph und schreit lautmalerisch im Takt, während vor ihm rund zehn Leute durcheinander stolpern. „Aaah, links, aaah, rechts! Oberkörper! Kreis! Und tschak und tschak!“, feuert er die Tanzenden an. „Ich kann gar nicht tanzen“, sagt Nummer 5 neben mir missmutig. „Aber wenn ich das jetzt nicht mache, kann ich die Festspiele ja gleich vergessen.“ Der kleine, blasse Mann stellt seinen Regenschirm zur Seite und geht entschlossen auf die Tanzgruppe zu. Ich schaue ihm hinterher. Ach, was soll’s?

Während die vorherige Gruppe gedemütigt das Schlachtfeld räumt, nehme ich Aufstellung neben Nummer 5 und Abschied von meiner Würde. Wir grinsen uns an – zum Weinen reicht es noch nicht. Und dann geht es auch schon los. Der Choreograph tanzt geschmeidig wie eine Katze vor uns her. Ich hingegen rumpele von einem Tanzschritt zum nächsten. „Und Schritt und ran und Schritt und ran. Dadadi, dadada“, tönt der Choreograph schon wieder. Lautmalerei hilft mir jetzt auch nicht weiter. Fertig geübt – er macht die Musik an und es geht ums Ganze.

Ich hab die Hälfte schon wieder vergessen und orientiere mich an dem Mädchen vor mir. Das macht es auch nicht besser. Wie ein angeschossenes Tier stolpere ich über die Tanzfläche. Gute Nachricht: Alle anderen machen es nicht viel besser. Schlechte Nachricht: Das Filmteam ist in meinem Augenwinkel aufgetaucht. „Und noch mal!“ Gefühlte 28 Durchgänge haben wir schon hinter uns. Als es endlich vorbei ist, schwöre ich mir ein weiteres Mal, nie, nie wieder nüchtern zu tanzen.

Schlussendlich wird noch ein Foto gemacht und auf die Nummer geklebt. Dann geht es zum Produktionschef. Nummer 5 und ich stehen in der Schlange. Was wir zusammen durchgemacht haben, hat uns zusammengeschweißt. „Ich glaube, das reicht bei mir nicht“, sagt er und runzelt die Stirn. Er kommt aus Lübeck.

Fünf Wochen vorher beginnen die Proben – jeden Tag mehrere Stunden. Und dann kommen noch 72 Vorstellungen dazu. 1.500 Euro gibt es dafür. Was Ronny wohl dazu sagt? Der Produktionschef mustert meinen Zettel und dann mich, hinter ihm ist eine Kamera aufgebaut, die mich filmt.

Die Kollegin neben ihm schaut sich ebenfalls den Zettel an. „Deine Chancen stehen nicht schlecht. Aber der Bart, der muss wahrscheinlich ab. Indianer haben ja keine Bärte.“ Jetzt reicht’s!

Karl May konnte am Ende seines Lebens Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten. Er hatte sich in seine Romanwelt hineingesponnen. So weit will ich es nicht kommen lassen. Im Norddeutschland des 21. Jahrhunderts ist kein Platz für einen wie Old-Shatterhand. Ich gestehe also dem Produktionschef meinen Schwindel und verlasse das Indian Village.

Und der Bart, der bleibt sowieso dran.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.