Capraia: Beglückendes Dolcefarniente
Die fast autofreie, kleine Insel an der toskanischen Küste Italiens ist nur für Individualisten, Wanderer oder Vogelliebhaber geeignet.
Die Ankunft auf dieser Insel ist angenehm ernüchternd: Selten schmeckt Langeweile so süß wie auf Capraia, hier gibt es kaum etwas zu entscheiden und genau das ist die große Entdeckung. Es gibt unten den Hafen und drei Kurven den Felsen hoch ein Dorf. Mehr nicht. Der Rest der 19 Quadratkilometer großen Insel im toskanischen Archipel ist autofrei. Weil an jeder Weggabelungen ein Fahrverbotsschild steht – und weil es auf dem restlichen Teil der Insel sowieso nur Wanderwege gibt. Wege, die durch wilde Natur, über knapp 400 Meter hohe Berge, durch kniehohes, wohlduftendes Macchia-Gestrüpp und über schroffe Steilküsten aus dunkelrotem Lavastein wieder hinunter ans Meer führen.
Anders als bei Elba oder Giglio verweisen gängige Reiseführer höchstens mit einem Infokasten auf Capraia. Es gibt hier keine Sandstrände, keine mondäne Promenade und die komplette Westküste ist als Naturschutzzone 1 für Boote gesperrt. Stattdessen leben hier Seeigel, Silbermöwenkolonien, Seepferdchen, bunt gestreifte Fische, grün gepunktete Eidechsen, ziemlich laute Hummeln und wilde Ziegen, Capras, nach denen die Insel benannt wurde. Eine Informationstafel oben im Dorf verspricht gar Walfische.
Wanderer, Schnorchler und Ornithologen
Zu Besuch kommen entsprechend Wanderer, Schnorchler, Ornithologen und Segler. Plötzlich diese Übersicht: Nur im äußersten Nordosten leben auch im Winter etwas mehr als 300 Einwohner. Auf der restlichen Insel stehen lediglich ein paar markant verteilte Festungstürme, welche die Provinz Genua einst baute, um sarazenische Piraten abzuwehren. Von ganz oben sieht man bei guter Sicht bis Korsika und Elba.
Anreise: täglich Fährverbindungen ab Livorno mit Toremar (www.toremar.it).
Reisezeit: Die Saison beginnt mit dem Wanderfestival Wild Trail Capraia im April und endet mit der Tintenfisch-Sagrada (Sagra del Totano: sagradeltotano.it/) Anfang November. Zum Wandern eignet sich vor allem der Frühling.
Übernachten:- Agriturismo „Valle di Portovecchio“ località „Il Pollaio“ 57032 Capraia Isola (LI), Telefono: 0586-905242, Mobile: 339-2592498, vallediportovecchio@virgilio.it – Campeggio le Sughere www.campeggiolesughere.it/ – diverse Studios: Agenzia della Rosa www.capraiavacanze.it
Das Inselleben findet im Hafen unten und im Dorf oben statt. Unten wird der fangfrische Fisch verkauft, kommen Benzin, Nachrichten und palettenweise Moretti-Bierdosen an. Oben auf der Piazza Milano seufzen die Alten über die Hitze. Hier gibt es ein privatisiertes Castello, einen Helikopter Landeplatz und ein Tabacchi. Sonst nichts. Viele Entscheidungen erübrigen sich auf Capraia auf wundersame Weise: Ein Supermarkt unten, eine Bäckerei oben, ein Stand mit frischem Fisch, eine Gelateria, ein Campingplatz, ein ausrangierter Mini-Bus aus Siena für die drei Kurven. Und einheitliche Öffnungszeiten: Die Geschäfte sind von 13 bis 17 Uhr geschlossen.
Den Rhythmus für das Leben auf Capraia taktet die Fähre. Täglich grüßt sie mit einer scharfen Spitzkehre vor dem kleinen Steinsträndchen Spiagga del Frage direkt neben der Hafenmole. Kurz darauf wird freudig gehupt, gelacht, werden schmatzende Begrüßungsküsse verteilt.
Das Durcheinander ist routiniert: jeder versucht sich theatralisch mit einer Extrawurst. Die Barbesitzerin der Strandbar ist heute die erste, die mit ihrem kleinen Citroën in den Laderaum darf, um dort ein paar Kartons Softgetränke abzuholen. Lastwagen liefern Benzin, Steinbänke oder Baumaterial, der Rest wird händisch aus dem Frachtraum getragen. Die Fähre, die gut drei Stunden von Livorno nach Capraia braucht, ist gleichzeitig Postfach und Treffpunkt.
Die einzige Fritteria unten am Hafen
Sobald das Schiff ablegt kehrt Stille ein. Jetzt wird wieder in aller Ruhe über die Hitze, den Prosciutto und die Quallen geplaudert. Wobei letztere der einzige Aufreger auf dieser gemütlichen Insel sind. Welche Quallen wie gefährlich sind, wann sie kommen und was man bei einem Biss unternimmt, darüber hat hier jeder und jede seine eigene Theorie, die von Rasierschaum über Olivenöl bis zu einem simplen heißen Stein reicht.
Neben der Fähre und den Quallen verbreiten nur noch die wenigen Nordeuropäer Hektik, die sich gut ausgerüstet und voller Tatendrang auf Capraia verirren. Ihre Lektion im Dolcefarniente bekommen sie, sobald sie Einheimische um Rat fragen. Welche der zahlreichen Buchten lohnt sich zu erwandern: Porto Vecchio, Bagno del Torre, Cala Zurletto oder Cala del Ceppo?
Die Mitarbeiter von Nonno Beppe, der – natürlich einzigen – Fritteria unten im Hafen, blicken nur ratlos auf die Karte der Insel, die ich ihnen hinlege. Ohne Boot? Zu Fuss? Augenbrauen gehen hoch. Jetzt im Sommer bei 32 Grad? Seufzen. Mit Kind und Rucksack? Mitleidiger Blick und Kopfschütteln. Unmöglich.
Viel zu heiß, viel zu weit, und noch gar nie auf eine solche Idee gekommen. Außerdem, gibt die Köchin zu bedenken, müssten wir ja die Panini selbst mitnehmen, Strandbars gibt es schließlich keine auf Capraia. Also stehen wir rechtzeitig vor den beiden grantigen Schwestern im einzigen Alimentari und bestellen genügend Panini.
Vorbei an der ehemaligen Strafkolonie
Der Weg zum Porto Vecchio führt durch ein Stück Vergangenheit der Insel: Hier verfallen reihenweise die Gebäude einer ehemaligen Strafkolonie, in der Häftlinge bis 1986 Getreide und Oliven anbauten. Der Haupttrakt mit verrosteten Gitterfenstern ist noch immer gut zu erkennen, auch die beiden Kapellen sowie ein kleiner, sehr aufwendig bemalter Palazzo mit Garten für den Direttore. Oben auf dem Hügel steht ein sozialistisch anmutender Bauernhof, gleich dahinter führen Rossana Chierichetti und Massimo Schiavelli ein kleines Agriturismo auf gepachtetem Gelände der Strafkolonie.
Hier endet die Straße und nur noch ein schmaler Trampelpfad führt hinunter zum Porto Vecchio. Wir riechen wilde Minze, Kamille, Myrrhe, Kiefern und winken unten am Ufer den erstaunt blickenden Besitzern der luxuriösen Jachten hochmütig zu. Eine Ecke weiter wäre der einzige Sandstrand der Insel, welcher der Macht des Nordwest-Windes unterliegt. Doch in diesem Jahr war er im März so stark, dass der Sand verweht wurde. Ein Ausflug dorthin, seufzt der Bootsvermieter, lohne also nicht.
Gründe, eine Anstrengung nicht zu tun, gibt es auf dieser Insel viele, das lernt man als Tourist von den Einheimischen schnell. Die meisten von ihnen treffen sich morgens und abends an der Spiagga del Frage, Jede kennt hier jeden, welche Enkel zu welchen Großeltern gehören, ist schnell klar. Aufgabe der Nonni ist es, die Kinder im Sekundentakt mit Wasser anzuspritzen oder Plastikferraris aufzublasen. Aufgabe der Nonne ist es vom Badetuch her die Enkel, manchmal auch die Nonni, zur Vernunft zu rufen. Täglich, pünktlich um 10.30 Uhr schlägt hier eine große Welle ans Ufer, vor der zwar ein Hinweis am Eingang warnt, von der jedoch niemand weiß, warum und woher sie kommt.
Kritisch beäugte selbstverliebte Jachtbesitzer
Schulterzucken am Ufer, großes Gekreische im Wasser. Wie so vieles hier, bleibt auch diese Welle ein Mysterium, der man mal nachgehen könnte. Könnte, denn den Konjunktiv weiß man nach nur 24 Stunden auf dieser Insel zu schätzen. Erst abends erwacht die Insel aus ihrem Dolcefarniente-Schlaf, wenn bei Sonnenuntergang eine Jacht nach der anderen im Hafen anlegt.
Die Hafenmitarbeiter in ihren roten T-Shirts bewegen sich jetzt schneller, rufen hektisch Befehle in ihre Funkgeräte und verkneifen sich ein Grinsen, wenn einem selbstverliebten Jachtbesitzer das Einparken mal wieder nicht gelingen will. Es gibt zu dieser Primetime am Hafen klare Spielregeln: Je fetter die Jacht, umso größer die Erwartungen der Zuschauer an ein souveränes Manöver. Zuviel verlangt ist das nicht, schließlich sind sie die einzige Unterhaltung auf dieser sonst so verschlafenen Insel..
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