CannesCannes: Das Leid der Welt und das des Autors
■ Boy meets girl meets Schwester in „Pola X“, dem neuen Film von Leos Carax
Falls Sie JungautorIn sind, hüten Sie sich davor, in Ihrem zweiten Roman bedingungslos der Wahrheit nachzuspüren. Sie könnten das Schloß verlieren, in dem Sie wohnen. Sie könnten das Schloßfräulein vom nächstgelegenen Herrensitz verlieren, das Sie heiraten wollen. Sie könnten zwar eine neue Schwester aus dem Balkan gewinnen, aber dafür Ihre schöne Mutter verlieren, die immerhin Cathérine Deneuve heißt. Sie könnten Ihren Cousin erschießen, und Ihre neue Schwester müßte sich dann vor ein Auto werfen. Aber am schlimmsten: Statt des Bestsellers, der so treffend die Befindlichkeit der heutigen Jugend schilderte, dürfte Ihr nächster Roman schlicht Schrott sein. Denn der Wahrheit ist Ihr Talent nicht gewachsen.
Dies jedenfalls gibt Leos Carax in „Pola X“ zu bedenken. Acht Jahre brauchte der Regisseur nach „Les Amants Du Pont Neuf“ für seinen neuen Film, dem Cannes mit großen Erwartungen entgegensah. Auch er könnte „Boy meets Girl“ heißen, Carax' Dauerthema, das seinem ersten Spielfilm 1983 den Titel gab. Freilich ist das Paar, dessen Liebesspiele Carax nicht weniger explizit in Szene setzt, als es Lars von Trier beim Gruppensex seiner „Idioten“ tat, Bruder und Schwester. Die Geschichte von Pierre, der eines Tages eine ihm unbekannte Schwester gefunden zu haben glaubt und mit ihr sein bisheriges Leben hinter sich läßt, stammt von Hermann Melville, wobei Carax und seine Koautoren noch eine anständige Prise Robert Musil druntermixten. Sie könnte, trotz ihres unoriginellen 19.-Jahrhundert-Tons, sogar funktionieren. Dann dürften freilich die Dialoge nicht nur unfreiwillig komisch sein. Und der Gedanke, daß es von Pierre sehr löblich war, seine Verlobte zu verlieren, weil Delphine Chuillot so katastrophal schlecht spielt, daß man als Zuschauer gerne eine Weile auf sie verzichtet, dürfte einem ebenfalls nicht in den Sinn kommen. Es dürfte die stete Bildungshuberei nicht sein, und zum Leid des Autors dürfte nicht auch noch das der Welt hinzukommen. „Pola X“ leidet an zuviel Vorgabe, Pose, Überforderung. Auch für Carax, wie für seinen Helden Pierre, so darf man „Pola X“ zitieren, „ist die Wahrheit noch zu groß“.
Aber für wen gälte das nicht? Auch die zwei Schwestern Rivka und Malka, die in Mea Shearim leben, dem Viertel der ultraorthodoxen Juden von Jerusalem, kommen mit der Wahrheit, daß die Orthodoxie ihr Leben zerstört, nur schlecht zu Rande. Nüchtern, geradezu dokumentarisch erzählt Amos Gitai in seinem Film „Kadosh“, wie ihre Zwangsscheidung wegen Kinderlosigkeit Rivka in den Selbstmord treibt, während ihre Zwangsehe Malka in die säkulare Welt ausbrechen läßt. Der erste israelische Wettbewerbsbeitrag in Cannes seit langem zeigt die jüdische Orthodoxie als eitle, überhebliche Angelegenheit, die ihre stärkste Waffe in der biologischen Überwältigung ihrer säkularen Umgebung sieht: durch Heiraten und massenhaftes Kinderzeugen. Weil aber Gitai auf die dichte Beschreibung setzt und die Schilderung des religiösen Alltags der Ultraorthodoxen den größten Raum einnimmt, entgeht er einer vordergründigen Parteinahme. Er weiß, daß die ganze Wahrheit auf einmal einfach nicht zu haben ist, und beschränkt sich auf das Private, das politisch ist. Die harte Politik streift er dabei noch nicht mit einem Seitenblick. Sollte man nun sagen, er sei der Wahrheit gewachsen?
Brigitte Werneburg
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