Cannes Cannes: Protestantismus als Schizophrenie
■ Filme von Mimmo Calopresti, Terry George und Lars von Trier
Terrorismus aller Arten beschäftigt uns hier seit geraumer Zeit. Nanni Moretti und Valeria Bruni-Tedesci waren Opfer und Täter in „La Seconda Volta“ des Dokumentaristen Mimmo Calopresti. Er ist ein Professor und stand vor zwölf Jahren zufällig dort, wo ihre Kugel einschlug. Aus einem Bus sieht er sie vorbeifahren, sie hat sich inzwischen als Freigängerin ein neues Leben zu zimmern versucht, mit Bürojob, geregelten Mittagspausen und ohne Vergangenheit.
Irgendwann konfrontiert er sie, schließlich ist die Kugel noch immer in seinem Kopf: „Warum ich“? Achselzucken. „Warum sind Sie Terroristin geworden?“ Kann man auch nicht mehr genau sagen. Langsam und still rollt der Film ab, es gibt keine Tränenausbrüche, keine Liebesaffaire; statt dessen einen experimentierfreudigen und zugleich um seine Grenzen wissenden Strafvollzug, feixende und freundliche Kollegen, eine Fiat-Fabrik...
Calopresti und Moretti hatten beide in den 70er Jahren Freunde, die damals glaubten, in Italien herrsche Krieg. Der Film wirkt ein bißchen wie „Deutschland im Herbst“, nur mit dem ganz entscheidenden Unterschied, daß den Protagonisten wie Schuppen von den Augen fällt: da war gar kein Krieg.
Terry Georges „Some Mother's Son“ braucht sehr lange, um so interessant zu werden. Man sieht klare, rothaarige irische Menschen vor britischen Panzern fliehen, die Mütter mit Kopftüchern, die Söhne in Christus-Posen. Zwei landen für einen Mord im Gefängnis, weigern sich, die normale Häftlingskleidung anzuziehen, weil sie doch Politische sind, worauf man ihnen die Toiletten entzieht. Schließlich gehen sie in den Hungerstreik, und der Film endet, als man ihn endlich ernst nimmt: Als es um die Frage geht, ob eine Mutter ihren Sohn gegen seine Überzeugung zur Reanimation zwingen darf.
Einer der merkwürdigsten Filme, die ich je gesehen habe, war Lars von Triers „Breaking the Waves“, über eine kleine Gemeinde in Schottland. „Ich wollte schon lange einen Film machen, in dem alle Absichten gut sind, aber einem Mißverständnis aufsitzen, was das Gute eigentlich ist“, hatte der Regisseur gesagt, und bei Gott: so war es.
Es sind die 70er Jahre, die kleine protestantische Gemeinde lebt an einer Klippe, es gibt einen gestrengen Ältestenrat mit Bärten und herabgezogenen Mundwinkeln. Sie willigen schließlich ein, daß Bess, ein bezauberndes, frommes Mädchen, einen fremden Werftarbeiter heiratet, Jan. Er bringt seine Kumpels und seine Musiker, sie greift nach seinem Schwanz, als hätte er ihr was Köstliches und Lustiges mitgebracht, und kichert verschworen.
Als Jan wieder auf den Bohrturm muß, bringt es sie fast um, und so betet sie, daß er um jeden Preis wieder nach Hause kommen soll. Um jeden Preis? Fragt sie sich mit verstellter Stimme, die für sie Gottes Stimme ist (Protestantismus als Schizophrenie). Um jeden Preis: Ein Kran streckt ihn nieder, er ist gelähmt, er will sterben, aber er will, daß sie lebt und so trägt er ihr auf, sich einen Liebhaber zu suchen und ihm davon zu erzählen. Von einem Boot läßt sie sich, wie über den Styx, zu den großen Schiffen bringen, wo riesige Matrosen warten. „Suzanne takes you down and she leads you to the river“ – von Trier unterbricht die Erzählung, die einen tiefer verwickelt, als es einem unter tausenden von Kollegen am frühen Morgen lieb sein kann.
Daß man bereit ist, dem Film in komplette Mysteriösität hinein zu folgen, hängt nicht zuletzt mit den sympathischen Stimmen der Vernunft zusammen, die immer wieder zu Wort kommen. Ein rauher Wind geht da in Schottland und die Kirche hatte nicht mal Glocken. Mariam Niroumand
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