piwik no script img

Archiv-Artikel

CHARMANT ANGEKRÄNKELTE CHARLOTTENBURGER ALTBAUTEN Einzug ohne Revolution

VON DIRK KNIPPHALS

Acht Zimmer. 250 und mehr Quadratmeter. Eine Deckenhöhe, über die man gar nicht erst nachdenken möchte. Solche Wohnungen gibt es nur im alten Berliner Westen.

Herr S. wohnt seit Mitte der neunziger Jahre hier, in der Mommsenstraße, und zwar fast an der Ecke Giesebrechtstraße, was wichtig ist. Der Anfang der Mommsenstraße, Ecke Knesebeckstraße, ist Herrn S. zu schick und zu großbürgerlich. Und auf der anderen Seite, über die Lewishamstraße hinaus, sei auch schon wieder anderes Territorium. Mehrfach fallen dann abschätzige Bemerkungen über die leicht esoterisch angehauchte neue Lehrerboheme rund um den Stuttgarter Platz. „Aber hier ist es schön“, sagt Herr S., nachdem wir über freundlich knarzendes Parkett ins größte der drei Zimmer, die nach vorne zur Straße hinausgehen, geschritten sind und uns in einer kleinen Sitzgruppe platziert haben. Und sofort möchte man sich erklären lassen, warum.

Zunächst kommt Herr S. zur Erläuterung auf die Lebensqualität zu sprechen. Von den Geschäften her habe er noch nie vorher im Leben so ideal gewohnt. „Innerhalb von fünf Minuten Fußweg gibt es alles, was das Herz begehrt.“ Reinigung. Bioladen. Supermarkt. Apotheke. Karstadt. Dann, was Herrn S. wichtig ist, die Kinos: Kurbel, Kant-Kino, Filmkunst 66. Mittwochs und samstags ein Wochenmarkt.

Aber das ist es natürlich nicht allein. Die Mischung der Bewohner sei hier auch richtig interessant, sagt Herr S. Niemals würde er in einer homogen deutschstämmigen Gegend wie dem Berliner Südwesten wohnen wollen. Und von der Wilmersdorfer mit seiner „wirklich schlimmen“ (Herr S.) Fußgängerzone her kommt auch Hartz-IV-Personal in den Blick des Großstadtbewohners. „Der reflektierende Großstadtbewohner“, sagt Herr S., „muss sich immer selbst seiner Liberalität versichern.“ Dazu gebe es hier, Mommsenstraße Ecke Giesebrechtstraße, ausgiebig Gelegenheit. Und so werde die naturwüchsige Verbitterung des Alters zurückgedrängt.

Aber auch das ist es noch nicht ganz. Hinzu kommen muss noch das besondere Flair der Umgebung, das Herr S. auf die Formel „Bürgerlich, aber angekränkelt“, bringt. Die Häuser vermittelten ja durchaus ein solides Gefühl von Bürgerlichkeit, aber alle seien auch ein bisschen angegangen. In dem Haus, in dem er wohne, sei etwa das Treppenhaus im Grunde eine Katastrophe. Und der Fahrstuhl. Innen schäbig mit Resopal ausgekleidet! Kein Haus sehe wirklich geleckt aus. Überall finde man kleine Geschichts- und Gebrauchsspuren. Bemerkenswert sei ja auch der Anfang der Giesebrechtstraße. Zum einen gebe es da diesen wirklich schönen, beinahe pariserisch anmutenden großen Brunnen. Und gleich daneben finde sich diese „grandiose Schäbigkeit“ des Mommsen-Ecks, einer großen Gaststätte, die mit einem Schild für sich wirbt, auf dem „1000 Biere“ steht.

„Das Prächtige und das Schäbige muss sich mischen“, sagt Herr S. „Dann findet das der liberale Intellektuelle gut. Und zugleich hat er das Gefühl, er sei nicht ganz zum Klassenfeind übergelaufen.“

In den siebziger Jahren hat Herr S. – damals noch nicht so liberal – schon einmal in Berlin gelebt, zum Studium, bevor er dann beruflich nach München umziehen musste. Damals hat er selbstverständlich in Kreuzberg gewohnt. Nach Charlottenburg sei er in der Zeit nicht oft gekommen. „Damals haben wir gedacht: Hier wohnt der Klassenfeind.“

Es habe aber zum Beispiel in Charlottenburger Kellern wilde Antiquariate gegeben. Da sei er gelegentlich hingegangen und habe einmal auch eine prächtige alte Goethe-Ausgabe aus einem großen Haufen lieblos aufeinandergeschichteter Bücher gezogen. Bei solchen Gelegenheiten habe man sich damals doch umgesehen, die schönen, großen Wohnungen bemerkt und sich gedacht: „Nach der Revolution ziehen wir hier ein!“

Das hat für Herrn S. ja auch geklappt, auch ohne Revolution. Er will hier unbedingt wohnen bleiben. Bis vor zwei Jahren hatten ihn ein paar leer stehende Geschäfte leise alarmiert. Würde der Berliner Westen doch abgehängt werden? Aber inzwischen seien, so Herr S., alle Geschäfte wieder vermietet und auch sonst alles wieder gut.